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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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ab. Noch jetzt fühlte er das Mitleid, den Zorn und die Hilflosigkeit, mit der er sich die Aufnahmen der versteckten Kamera angesehen hatte. Sie waren qualitativ schlecht, verwackelt und ungenügend belichtet, aber das verlieh ihnen eine noch größere Authentizität. Eigentlich zeigten sie nichts anderes als einen Pferdetransport – vom rabiaten Treiben in den LKW hinein über den Zusammenschnitt der ganzen Fahrt bis hin zum Ausladen der halb toten Tiere auf dem Schlachthof. Die Aufnahme dauerte lediglich ein paar Minuten. Mit der Schlachtung war sie zu Ende.
    Darek hatte es bis zum Schluss ausgehalten. Jetzt war er nicht mehr derselbe. Als hätten ihn das Video und die Fakten, die er erfahren hatte, infiziert. Als hätte er etwas Schlechtes gegessen, etwas, das er nie wieder aus sich herausbekommen würde, etwas, das sich in ihm zersetzte und langsam jede Faser seines Körpers und der Seele vergiftete. Wer weiß, ob er jemals wieder über den Fußballplatz jagen, mit Mischa über Dummheiten lachen, Samurai spielen oder unbeschwert Hanka küssen könnte? Wer weiß, ob er jemals wieder einem Pferd in die Augen schauen könnte?
    Er sprang über den Straßengraben und lief über den Rasen weiter. Tau war bereits gefallen, die Wiese roch intensiv nach Wildem Kümmel. Darek dachte an die Mausfalbe, die die Blätter von Kümmel, Fenchel und Kamille vergötterte. Sie lief über die Weide wie ein Kräuterweib, fraß alles, was duftete, und nieste um die Wette. Wo war sie wohl um diese Zeit? Auf der Hasenwiese? Oder auf der Rauen? Hatte Vater sie für die Nacht in den Stall gebracht? Oder …? »Vergiss deine Stuten und deine schönen Hengste«, kamen ihm Hugos spöttische Worte wieder in den Sinn. »Zu Hause wirst du nur eine leere Koppel finden, Hohlkopf!«
    War es wirklich möglich, dass in diesem Augenblick irgendwo in Italien ihre Pferde geschlachtet wurden? Schlug man sie mit elektrischen Peitschen, jagte man sie durch einen Betonkorridor, hielt man ihnen, einem nach dem anderen, die Bolzenpistole vor die Stirn und …? Darek schüttelte heftig den Kopf.
    Â»Blödsinn!«, stieß er hervor. Im Anschluss noch auf Englisch, damit es deutlicher wurde: »Bullshit!«
    Trotz aller Informationen und Eindrücke aus dem Internet wusste er nicht, woran er war. Er zweifelte nicht an der Echtheit der Bilder, aber er konnte nicht glauben, dass die Angelegenheit etwas mit ihm zu tun hatte. Dass sie etwas mit Vater zu tun hatte. Und mit ihrer Herde. Soweit es um Anton ging, waren die Beweise offensichtlich. Sie ließen sich nicht verleugnen. Anton war nachweislich in den Handel und Transport von Pferden verwickelt. Er hatte eine Firma, die sich an dem Tod von Tieren die Taschen vollmachte. Er verstellte sich. Spielte vor Darek den Kenner, Züchter und Pferdeliebhaber, dem nichts als ihr Wohlergehen am Herzen lag. Dabei ging es ihm nur darum, dass die Tiere zunahmen und er möglichst viel für sie einsteckte. Darek kam in den Sinn, dass Herr Havlik Antons falsches Spiel womöglich durchschaut hatte. Deshalb war er ihm gegenüber so ablehnend. Darek hatte nichts durchschaut. Er hatte in Anton einen Freund gesehen. Er hatte die Reitstiefel angenommen, war mit ihm im Auto herumgefahren, hatte Eis mit ihm gegessen. Er duzte ihn. Er war ihm auf den Leim gegangen. Er hatte gedacht, sie würden das Gleiche wollen, sie hätten das gleiche Ziel. Natürlich wusste er von Anfang an, dass es auch um Geld ging, aber je mehr Zeit ins Land ging, desto mehr war in ihm die Überzeugung gewachsen, der Verdienst sei Nebensache. Was wichtig war, waren die Pferde. Ihre Gesundheit und Zufriedenheit. Ihr Leben.
    Schon tauchte der See auf. In der Dunkelheit sah er größer aus. Die schwarze Wasseroberfläche war ruhig, still, ohne Glanz. Darek nahm den kleinen Uferpfad und gab acht, nicht über die herausragenden Baumwurzeln zu stolpern. Hin und wieder ging er an den Anglersitzen vorbei, die aus Baumstümpfen und Brettern zusammengenagelt waren. Ein Stück weiter stand eine Holzhütte, in der man sich bei Regen unterstellen konnte. Sie hatte keine Tür und innen roch es nach frischem Heu, das jemand von der Wiese hereingetragen hatte.
    Darek blieb stehen. Ob er eine kurze Pause machen sollte? Oder lieber die Müdigkeit wegschieben, die Hütte hinter sich lassen und weitergehen? Konnte er überhaupt noch? Erst jetzt, als

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