Orangentage
in sich tragen würde.
Das Dröhnen eines Flugzeugs schnitt unerwartet laut in die nächtliche Stille. Die Waldkuppe verdeckte schon die ganze untere Hälfte des Mondes und mit abnehmendem Licht schienen die Umgebungsgeräusche schärfer. Im Gras neben der StraÃe waren Grillen zu hören, von der entlegenen Wiese tönte das derbe Schreien eines Wachtelkönigs, das an das Geräusch eines Kamms erinnerte, mit dem man über eine Streichholzschachtel streicht. Darek spürte ein Kribbeln an der Sohle â es war die Erinnerung seines Körpers an die unangenehme Begebenheit am Ende des Frühlings, als er einen jungen Wachtelkönig fast totgetreten hätte. Er war dabei, die Wiese von Pferdeäpfeln zu säubern, und plötzlich erblickte er etwas Lebendiges unter dem Schuh. Er sprang zur Seite und beobachtete fasziniert den gelblichbraunen Vogel, der sich unter knarrendem Geschrei zwischen den Zweigen und Grashalmen entfernte. In wenigen Sekunden verschwand er aus seinem Blickfeld. Er verschmolz perfekt mit seiner Umgebung, doch Darek ahnte, dass er zum Greifen nahe war. Das war das Erstaunlichste an Wiesen: Auf den ersten Blick sahen sie passiv, fast leblos aus, aber wenn man achtgab, entdeckte man ganz viel. Alles hing miteinander zusammen. Herr Havlik hatte recht, wenn er sagte, dass Zusammenhänge überall zu erkennen seien, man müsse sich nur konzentrieren. »Doch dafür sind die meisten Leute zu zerstreut«, sagte er. »Wir glotzen hin, wir glotzen her, und aus Angst, etwas zu verpassen, sehen wir schlieÃlich nichts. Wir haben vergessen, was Konzentration überhaupt ist.«
Die Tiere hatten es nicht vergessen. Darek schaute manchmal aus der Ferne zu, wie sich Pferde verhielten, wenn sie alleine waren. Sie weideten oder liefen scheinbar sorglos über die Wiese, aber es reichte, dass Herkules durch eine wahrgenommene Information aufmerksam wurde, und der Rest der Herde übernahm sofort sein Verhalten. Sie blickten sich um, spitzten die Ohren und sogen den Wind mit solcher Aufmerksamkeit in die Nüstern, dass für sie nichts anderes existierte. Sie bildeten einen Organismus. In diesen Momenten spürte Darek Neid. Am liebsten hätte er dort mit ihnen gestanden und das Gleiche wie sie gehört und gerochen. In solchen Augenblicken wäre er am liebsten auch ein Pferd gewesen.
Er warf den Rucksack von den Schultern und blieb stehen. Müdigkeit übermannte ihn, aber das war nicht das Schlimmste. Vor allem war er wütend auf sich. Er hatte sich vorgenommen, die Pferde zumindest für ein paar Stunden aus seinem Gehirn zu vertreiben, aber es gelang ihm nicht. Sie kamen immer wieder zurück, auf verschiedensten Wegen â nicht nur die eigenen, auch die fremden Pferde, die er im Internet entdeckt hatte. Die besonders. Sosehr er sich auch dagegen wehrte, blitzten die Fotos immer und immer wieder vor ihm auf. Es waren mindestens zehn gewesen, eines erschütternder als das andere. Sie zeigten das Leiden der Tiere und die Brutalität des Menschen in allen erdenklichen und unerdenklichen Varianten. Anton selbst hatte Darek auf keinem der Bilder gefunden. Zum Glück. Wenn ihn aus einem der Fotos plötzlich Antons lachendes Gesicht angeguckt hätte, hätte er möglicherweise das Laptop in einem Wutanfall zerschlagen. Er las noch eine Reportage über polnische und litauische Züchter und GroÃhändler durch. Dort stieà er wieder auf das Logo von Horse Buddy. Dieses Mal war es auf einem gröÃeren, moderneren LKW zu sehen. Der Text darunter erklärte, dass zehn und mehr Pferde hineinpassen würden, je nach GröÃe. Dass sie auf diese Weise nach Italien zu Schlachthöfen gebracht würden. Die Reise würde bis zu vierzig Stunden dauern. Die Pferde bekämen nichts zu trinken, damit das Fleisch nach der Schlachtung nicht wässerig sei. Viele Tiere würden sich unterwegs verletzen, manche würden den Transport nicht überleben. Die verletzten und niedergetrampelten Tiere müsse der Geschäftsmann unter Wert verkaufen, oder sie würden in der Abdeckerei landen, aber es sei trotzdem ein besonders einträgliches Business.
Als Darek mit groÃer Ãberwindung zu Ende gelesen hatte und dachte, es könne nichts Schlimmeres mehr kommen, entdeckte er auf Youtube das Video. Seitdem waren bestimmt mehr als sechs Stunden vergangen, aber der Eindruck verblasste nicht, der Effekt stumpfte nicht
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