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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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Training teil, aber er konnte sich gut vorstellen, was sich auf dem Rasen abspielte. Die Jungs rannten, brüllten sich an, übten Kopfbälle und Freistöße. Hugo hüpfte im Tor, machte Liegestütze zum Aufwärmen, in seinem Unterleib klang wahrscheinlich immer noch die Erinnerung an den Tritt nach, mit dem Darek die Schlägerei beendet hatte. Bald würde die Vergeltung kommen, darauf konnte er wetten. Hugo schenkte ihm keinen Sieg für lange Zeit. Sie rauften immerfort. In Fortsetzungen. Darek überlegte, ob es so bis ins Unendliche weitergehen würde.
    Â»Ich bin eine Zaubererdbeerenfee«, hörte er Ema hinter seinem Rücken trällern und schaute sich um. Sie hatte sich das Geschirrtuch über den Kopf gelegt, tanzte tolpatschig um den Tisch herum, rammte Stühle und lachte breit.
    Â»Was kannst du hervorzaubern?« Er ließ sich auf ihr Spiel ein, erfreut, dass sie aus ihrer Traumwelt wieder zurückgekommen war.
    Â»Alles. Ich erfülle dir zwei Wünsche.«
    Â»Nur zwei?«
    Â»Oder zwölf. Oder … eine Million.«
    Â»Verarschst du mich?«
    Â»Feen verarschen nicht«, sang sie mit fröhlicher Stimme.
    Â»Gut. Dann wünsche ich mir, dass du das Geschirr abtrocknest«, sagte er.
    Â»Feen haben kein Geschirr«, erwiderte sie. »Du musst dir etwas anderes wünschen.«
    Das war zu viel für Darek. Er schmiss den Schwamm mit solcher Wucht in die Spüle, dass ihm das Wasser ins Gesicht spritzte.
    Â»Ema!«, knurrte er warnend und wischte sich den Schaum aus den Augen. »Wenn du nicht sofort das Tuch vom Kopf nimmst und jetzt gleich die Scheißteller abtrocknest, dann … dann …« Er suchte nach einer geeigneten Drohung, ihm fiel aber nichts ein. Nichts, was er auch in die Tat umsetzen könnte. »… dann passiert was!«
    Sie hörte auf zu tanzen. »Was passiert?«
    Â»Das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst!«, versicherte er ihr ernst.
    Ema blieb mitten in der Küche stehen. Und ohne zu blinzeln, blickte sie wie versteinert vor sich hin. Der Erdbeerzauber war verschwunden. Sie nahm langsam das Geschirrtuch vom Kopf und griff nach einem abgespülten Teller. Darek beobachtete sie verlegen. Er würde wahnsinnig gern wissen, was sie sich vorgestellt hatte, was für sie das Schlimmste war. Doch er ahnte, dass er es nie erfahren würde. Ihre Vorstellungen waren für ihn genauso unzugänglich wie ihre Murmelgedichte.
    Â»Ich trockne ab«, verkündete sie nach einer Weile. Das fröhliche Trällern war verflogen, sie sprach bedrückt. »Passiert das Schlimmste jetzt nicht?«
    Â»Nein«, antwortete er und spürte, wie ihm ihr verängstigter Blick den Hals zuschnürte. Ganz egal, auf welche Weise er mit seiner Schwester umging, am Ende fühlte er sich immer wie ein gemeiner Schuft. »Es passiert nicht.«
    ***
    Das Dorf war von Wiesen umgeben. An manchen Stellen stiegen sie bergan und grenzten an den Wald. An den unteren Hängen gab es Kuhweiden und weiter oben, auf den steilen Matten, grasten Schafe.
    Â»Nehmen wir die Abkürzung?« Darek drehte sich zu seinem Vater um, der mit Ema hinter ihm ging. Der Vater nickte. Darek bog vom Hohlweg ab und folgte einem schmalen, sich aufwärts windenden Pfad. Er riss einen Grashalm aus, steckte das Ende zwischen die Zähne und kaute an ihm herum. Die Sonne schien, ein paar Wolken kratzten an den Berggipfeln mit den letzten Schneeresten, darunter lagen die Wiesen. Sie wechselten ihre Farbe je nach Jahreszeit. Jetzt leuchteten sie hahnenfußgelb. Darek kannte neun Wiesen in der Nähe von Piosek, jede hatte ihren eigenen Namen. Zwei davon waren im Besitz der Familie Lysko: die Raue Wiese und die Hasenwiese. Die Raue war acht Hektar groß, die Hasenwiese ein wenig kleiner.
    Â»Auf welche gehen wir?«, rief Darek über die Schulter.
    Â»Auf die Raue.«
    Vor Dareks Geburt, in der Zeit, die in der Schule als die Epoche des Aufbaus des Kommunismus bezeichnet wurde, war den Menschen der gesamte landwirtschaftliche Besitz enteignet worden. Dareks Urgroßeltern wurden damals gezwungen, nicht nur das Acker- und Weideland, sondern auch den Hof samt Vieh, allen Maschinen, Geräten und Lebensmittelvorräten an den Staat abzugeben. Die Erbauer des Kommunismus hatten geschworen, produktiver zu wirtschaften und die Armut nicht nur in Schlesien, sondern überall abzuschaffen. Außerdem hatten sie

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