Orangentage
versprochen, alle Bürger zu Mitbesitzern des zusammengestohlenen Eigentums zu machen. Nach vierzig Jahren der gemeinsamen Wirtschaft besaà angeblich keiner etwas, und das Gut, zu UrgroÃvaters Zeiten fürsorglich gepflegt, schrie nach einer gründlichen Sanierung. Der GroÃvater sagte, dass die Genossen sogar vorgehabt hatten, es abzureiÃen. Dass die Familie Lysko heute wieder im Hof lebte, verdankte man der Tatsache, dass die Epoche des Aufbaus des Kommunismus ein jähes Ende genommen hatte. Sie war nur ein paar Jahre vor Dareks Geburt beendet worden â und trotzdem schien ihm diese Zeit so weit weg zu sein, als wäre es eine ferne Vergangenheit. Sein Verhältnis zu ihr war genauso unpersönlich wie zum Trojanischen Krieg. »Was denkst du, es dauerte länger als der Trojanische Krieg! Noch dazu haben sie behauptet, dass wir im glücklichen Frieden und Wohlstand leben«, wandte die Mutter ein, als er ihr sein Gefühl anvertraute. »Sei froh, dass du es nicht miterleben musstest. Halte in Ehren, was du hast.«
Darek war sich nicht sicher, ob er das zurückgegebene Gut in Ehren halten wollte, oder wie die Gemeinschaftskundelehrerin sagte, die vielen Freiheiten, von denen die Leute früher nicht einmal zu träumen gewagt hatten. In den Dokumentarfilmen, die im Unterricht vorgeführt wurden, sah man keine Freiheit. Dort gab es Panzer und Soldaten und eine Menge Maschendrahtzäune, es gab marschierende Kinder mit Pionier-Halstüchern, einen toten Studenten, der sich aus Verzweiflung mit Benzin übergossen und angezündet hatte, es gab Statuen der politischen Führer, so groà wie Aussichtstürme, und Menschen, die vor irgendetwas endlos Schlange standen. Auch wenn diese Schwarz-WeiÃ-Filme düster wirkten, sie riefen kaum Rührung bei Darek hervor. Das waren alles fremde Leute. Er wünschte, wenigstens ein bekanntes Gesicht zu erhaschen, am liebesten das seiner Mutter. Ob er sie erkannte, wenn sie in der Reihe der Pioniere gestanden hätte? Hatte sie schon damals langes Haar? Wie verhielt sie sich in diesem Krieg-und-nicht-Krieg? Es würde ihn interessieren, was sie spielte, was sie dachte. Wovor sie Angst hatte. Sie hatte selten von der Vergangenheit gesprochen und Darek hatte vor, sie einmal gründlich zu befragen. Leider war er nicht mehr dazu gekommen.
»Lass uns bei den Bienenstöcken vorbeigehen«, hörte Darek Vaters Stimme hinter sich. »Ich will in den Honigraum hineinschauen.«
Die Bienenstöcke befanden sich am Rande des Waldes. Der kürzeste Weg dahin führte über die Wiese, aber das Gras war zu hoch, an manchen Stellen reichte es Darek bis zur Taille, und so kehrte er lieber auf den Pfad zurück.
»Wann mähen wir?«, fragte er.
»Kommt darauf an«, antwortete Vater ausweichend.
»Worauf?«
»Wir werden sehen.«
»Was werden wir sehen?« Darek vibrierte geradezu vor Neugier. Er wollte endlich Vaters Neuigkeit erfahren. Sie hatten schon ein ganzes Stück der Strecke zurückgelegt, standen hoch über dem Dorf und Vater schwieg fast die ganze Zeit. Höchstens mit Ema unterhielt er sich. Sie pflückte Löwenzahn und wollte, dass er ein Kränzchen daraus flocht. Vater bemühte sich, aber es gelang nicht so richtig.
»Du musst lange Stiele pflücken«, wies er sie zurecht.
»Was werden wir sehen?«, hakte Darek nach. »Worauf kommt es an?«
Vater kam näher und blieb stehen. »Was nützt uns Heu und Gras?«
»Wir brauchen es für die Hühner und Kaninchen, oder nicht? Und den Rest nimmt uns Herr Janosch ab.«
»Es zahlt sich nicht aus.«
Vaters Blick wanderte über die Wiese. Sie wogte im Wind, mit dem goldenen Schaum der HahnenfuÃ- und Löwenzahnblüten an der Oberfläche.
»Wir kriegen dafür Milch und Käse von Janoschs. Du hast gesagt, es ist besser, als sich um eine eigene Kuh kümmern zu müssen«, erinnerte ihn Darek. Vater war der geschickteste Mensch, den er kannte, aber ein Bauer war er nicht. Er hatte seine Kindheit in Ostrawa verbracht, hatte Schreiner, später noch Mechaniker gelernt, aber auf den Hof waren er und die Mutter erst nach der Hochzeit gezogen. Ackerbau und Viehzucht waren für sie böhmische Dörfer, sie hielten nur Hühner und Kaninchen. Und Vater hatte seine Bienen, aber das war ein Hobby, dem er sich bereits in der Stadt gewidmet hatte. Mutter verriet Darek, dass er
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