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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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fügte er schnell hinzu: »Angeblich wurden zweihundertsiebzig Leute rausgeschmissen.«
    Â»Elende Scheiße«, platzte Herr Havlik heraus. »Und es ist kein Ende in Sicht!«
    Â»Ein Ende wovon?«
    Â»Von der Krise. Zuerst haben wir die globale Finanzkrise gehabt, daraus haben wir uns eine Wirtschaftskrise gezüchtet und die ist jetzt in eine Schuldenkrise übergegangen … Auf den Namen kommt es nicht an, die Krise bleibt, was sie ist.«
    Â»Und was ist sie?«
    Darek kannte selbstverständlich den Begriff; in letzter Zeit hörte man ihn von allen Seiten, in allen möglichen Abwandlungen, doch die genaue Bedeutung hatte ihm noch niemand begreiflich gemacht.
    Â»In der Medizin bezeichnet die Krise die entscheidende Phase einer Krankheit. Eine akute, ernsthafte, manchmal sogar lebensbedrohliche Situation, ohne die keine Chance auf Genesung besteht. Zuerst allerdings – und das ist der Haken an der Sache – muss man einsehen, dass man krank ist. Es gibt Kranke, die ihre Krankheit abstreiten und auf alle Heilungsversuche wütend reagieren. Solche Irren können und wollen wahrscheinlich auch nicht gesund werden.«
    Wenn der Vater hier gewesen wäre, hätte er längst auf dem Absatz kehrtgemacht. Er hielt Herrn Havliks Gerede für Quatsch mit Soße. Darek dagegen fand Herrn Havlik ungewöhnlich und hörte ihm gern zu. Es war faszinierend, zu verfolgen, wie er auf absurdesten Umwegen schließlich doch noch ans Ziel kam.
    Â»Ich kenne niemand, der nicht gesund werden wollte. Sie schon?«, fragte Darek, öffnete den Sattelgurt und hob den Sattel von Herkules’ Rücken. »Kranksein macht doch keinen Spaß!«
    Â»Wie man’s nimmt. Einem Kranken wird viel Aufmerksamkeit und Mitgefühl entgegengebracht. Schau mal, nachdem mein Bein amputiert worden war, hast du angefangen, für mich einkaufen zu gehen. Manchmal packt Frau Gajdoschikova aus Mitleid eine Banane oder ein Stück Kuchen in meine Einkaufstasche – das finde ich gar nicht übel. Schon klar, Kranksein ist lästig und geht den meisten Menschen auf den Wecker. Doch nach einiger Zeit gewöhnt man sich an die Untätigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Man hat sogar Angst, dass sie einmal zu Ende gehen könnte.«
    Â»Und was hat das mit der Krise und meinem Vater zu tun? Wollen Sie vielleicht sagen, dass er hilflos ist? Da liegen Sie total daneben!«, schnauzte Darek ihn an. »Vater hat schon einen neuen Job gesucht, bevor er entlassen wurde! Er hat immer wieder auf dem Bau gearbeitet, im Wald, im Sägewerk …! Und Angst hat er auch nicht! Von seinen Ersparnissen hat er die Pferde gekauft, die Scheune zum Stall umgebaut und mit mir zusammen fünfzehn Hektar Wiese umzäunt! Das nennen Sie untätig?«
    Seine heftige Wortattacke erschreckte Herrn Havlik.
    Â»Nein, überhaupt nicht! Ich habe keineswegs deinen Vater gemeint«, versuchte er Darek zu beruhigen. »Ich habe … Wie soll ich es sagen … Es betrifft die ganze Gesellschaft. Wir alle sind krank.«
    Â»Wie meinen Sie das?«
    Â»Wenn wir eine Arbeit verrichten sollen, fragen wir immer zuerst, was wir dafür kriegen. Umgekehrt aber, wenn wir nicht getan haben, was zu tun war, wenn wir pfuschen, jemanden reinlegen, uns schlichtweg wie Arschlöcher benehmen, kommen wir gar nicht auf die Idee, zu fragen, was wir dafür kassieren. Und das ist krank. Es gibt nämlich nichts umsonst …«
    Er verstummte mitten im Satz. Darek blickte sich um. Der silberne BMW kam den Hohlweg entlang. Er zog einen Anhänger mit einem großen Pferde-Logo und der Aufschrift Horse Buddy hinter sich her. Anton fuhr, den Arm aus dem Fenster lehnend, im Schritttempo und wich vorsichtig Löchern aus. Er winkte ihnen heiter zu.
    Â» Dzień dobry! «
    Darek winkte zurück.
    Â»Guten Tag!«, erwiderte er den Gruß. Dann erinnerte er sich, dass ihm Anton letztens das Du angeboten hatte, und korrigierte sich: »Hallo, Anton!«
    Herr Havlik sagte nichts, nickte nur kaum wahrnehmbar. Er mochte Anton nicht. Zumindest seinem Gesichtsausdruck war klar zu entnehmen, dass er keine große Sympathie für ihn hegte. Er zog den Mund schief und begann, mit höchster Aufmerksamkeit seine mit Pferdespeichel besudelte Hand abzuwischen.
    Â»Ich bringe zwei Neulinge!«, rief Anton und deutete mit dem Daumen hinter sich auf den Pferdeanhänger. »Ist dein Vater irgendwo

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