Orangentage
können wirklich brutal gut beten!«
Er winkte dem erzürnten Alten zum Abschied, überlieà ihn der Obhut der Jungfrau Maria und rannte zur Haltestelle.
»Nach Krnow«, bat er den Fahrer. Während er zahlte und darauf wartete, dass die Fahrkarte gedruckt wurde, überlegte er, wie seine Reise weitergehen könnte. Es sah nicht besonders gut aus. Von Krnow nach Hause waren es noch mindestens dreiÃig Kilometer und in seiner Tasche war eine letzte Zehnkronenmünze. Er hatte einen Fehler gemacht. Er hätte nicht so Hals über Kopf aufbrechen sollen. Er hätte sich von Simon oder Lukas Geld leihen sollen. Oder noch besser von Hugo! Wenn er gelogen hatte, hatte er verdient, ordentlich dafür zu bezahlen. Aber was, wenn der Schurke diesmal nicht gelogen hatte? In einem Punkt hatte er auf jeden Fall die Wahrheit gesagt, das wusste Darek schon, aber wie weit die Wahrheit reichte und welche Folgen sie für ihre Pferde hatte, davon musste er sich mit eigenen Augen überzeugen. So bald wie möglich. Sofort. Darek drückte sich die Hände an die Schläfen. Der Kopf tat ihm weh und seine Augen tränten. Das waren nicht nur Nachwirkungen der Schlägerei, alles deutete auf einen leichten Sonnenstich hin.
Die Tür schloss sich mit einem Warnsignal und der Bus fuhr langsam los. Darek ging durch den Gang nach hinten, setzte sich, legte den Rucksack neben sich. Schloss die Augen. Er verspürte eine gewisse Erleichterung, aber sie war nur von kurzer Dauer. Auch hinter den geschlossenen Augenlidern zogen scharfe Lichtgrenzen an ihm vorbei und jedes Geräusch hallte schneidend in seinem Schädel wider. Er zog die Wasserflasche heraus, trank sie aus, stillte seinen Durst jedoch nicht damit. Die Augen hatte er stets geschlossen. Durch das Fenster strömte Abendluft herein, der Bus wippte auf und ab und in Darek kam eine lang vergessene Erinnerung hoch. Er zuckte heftig mit dem Kopf, blinzelte, versuchte sie zu vertreiben. Er wollte in der Gegenwart bleiben, im Jetzt. Jetzt war Wahrheit, Erinnerungen logen. Er wusste selbst am besten, wie oft er den vergangenen Geschehnissen einen neuen Anstrich gab, mit welcher Selbstverständlichkeit er längst ausgesprochene Worte und gemachte Gesten verformte. Aber die Erinnerung drängte an die Oberfläche, er konnte ihr nicht entkommen.
***
Ich sitze auf der alten Couch in der Küche. Ich weià nicht, wie alt ich bin, aber ich bin noch Einzelkind. Ich habe Halsweh, weine. Der Vater steckt mir einen Löffel Honig in den Mund. Der Honig ist ziemlich flüssig, trotzdem kann ich ihn nur schwer hinunterschlucken.
»Hier, spül es herunter.« Er hält mir eine Tasse Tee an den Mund. »Das hilft dir.«
Der Schluck Tee entfacht in meinem Hals glühende Kohlen. Ich versuche sie auszuspucken, fange stattdessen an zu husten.
»Wo ist Mami? Ich will zu Mami!«, stoÃe ich hervor. Tränen laufen über meine Wangen und vor lauter Heulen und Husten bekomme ich plötzlich keine Luft. Hysterisch wedele ich mit den Armen.
»Na, na, schön ruhig!« Vater klopft mir auf den Rücken. »Mami liegt oben im Bett. Sie hat auch Angina.«
»Hat sie nicht! Sie liegt nicht!«, protestiere ich. »Du lügst! Du lügst! Du lügst!«
Vater nimmt mich wortlos in den Arm und geht mit mir nach oben. Die Treppen knarren laut unter unserem gemeinsamen Gewicht und mich beruhigt dieses vertraute Geräusch. Vor der Schlafzimmertür bleiben wir stehen.
»Psst!«, ermahnt mich Vater nachdrücklich und legt seinen Finger auf meine Lippen. »Wir dürfen sie nicht aufwecken!«
Er drückt die Türklinke leise hinunter und nähert sich dem Bett. Im Zimmer riecht es nach Honig, die Nachttischlampe ist mit einem Tuch bedeckt, daneben steht eine dampfende Teetasse. Mutter liegt unter der Bettdecke, die Haare kleben an ihrer Stirn. Sie hat geschlossene Augen, atmet schwer im Schlaf. Obwohl sich dunkle Ringe unter ihren Augen abzeichnen und ihre Wangen vor Fieber brennen, spüre ich eine Erleichterung, denn Vater hat nicht gelogen. Ich strecke mich in seinen Armen und streichle meine Mutter â ganz leicht, nur mit den Fingerspitzen, um sie nicht zu wecken. Mein Herz füllt sich mit Freude und Stolz: Ich bin genauso krank wie Mutter, wir beide haben die gleichen Halsschmerzen, den gleichen Tee mit Honig, die gleiche Angina.
»Ist meine kleiner?«, frage ich Vater, wieder unten in
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