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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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neben dem Warteraum war ein Wegweiser angebracht. Auf dem Wanderweg waren es vierzehn Kilometer, an der Straße entlang neunzehn bis nach Piosek. Darek zögerte eine Weile, doch dann entschied er sich für den längeren Weg. Er hatte vergessen, eine Taschenlampe mitzunehmen, und die Vorstellung, dass er über dunkle Waldwege stolpern würde, war ihm unangenehm. In der offenen Landschaft fühlte er sich sicherer. Der Mond war fast voll und in seinem Licht konnte man nicht nur den Straßenbelag deutlich sehen, sondern auch die umliegenden Wiesen und die kantigen Körper der Kühe. Hin und wieder drehte sich eine nach Darek um und muhte zum Gruß. Es klang anders als tagsüber: wehmütig, eindringlich.
    Â»Hallo, Kuh«, antwortete er. Mit denen, die näher standen, begann er sogar ein Gespräch: »Kannst du nicht schlafen? Bist du hungrig? Vorsicht, dass du im Dunkeln nicht etwas Giftiges frisst!«
    Er war froh, sich selbst hören zu können. Viel zu lange hatte er geschwiegen, er spürte ein starkes Bedürfnis, das eigene Schweigen zu durchbrechen, egal womit. Als er anfing zu pfeifen, hörte er gleich wieder auf. Pfeifen war Vaters Domäne, und an Vater wollte er sich jetzt nicht erinnern, sonst wurde ihm schlecht.
    Die Übelkeit hatte schon im Speisesaal begonnen. Es war die Mischung von Gerüchen – Darek erkannte Vanille, Gurkensalat und einen Braten. Vor der Ausgabe begann sich allmählich eine Warteschlange zu bilden. Besteck klirrte, Teller klapperten. »Schnell, beweg dich, es gibt Zwiebelrostbraten!« Jaromir winkte ihm von dem Tresen zu. »Und Dampfnudeln mit Vanillesoße!«
    Darek saß in der Ecke an Simons Laptop und googelte schon seit einiger Zeit. Er durchstreifte verschiedene Seiten, Portale und Diskussionsforen, änderte die Suchbegriffe, fand bislang aber nur wenig brauchbare Beiträge. Als er gerade vorhatte, den Computer zuzuklappen und sich in die Schlange vor der Essensausgabe zu stellen, klickte er noch schnell auf einen Link und eine ganze Reihe von Bildern erschien. Darek sah sie sich nacheinander an. Bereits das zweite Foto machte ihn unruhig, das dritte stutzig, bei dem vierten hielt er inne und starrte es entgeistert an. Er sah ein Gittertor und davor einen LKW. Der Wagen war hinten offen und ein Pferd mit hervortretenden Augen hing heraus. Einige Männer zogen es am Seil. Ein Vorderbein ragte in die Luft, das zweite ragte nicht. Es war am Kniegelenk abgehackt. Unter dem Foto standen fünf Worte: Italien: das Ende der Reise. Dareks Blick glitt über die Buchstaben, kehrte aber schnell zum Bild des zugerichteten Pferdes zurück. Es war nicht tot, an den Augen konnte man erkennen, dass es bei Sinnen war. Das Weiße umrundete die braune Iris, die erweiterten Pupillen zeugten von Grauen und Schmerz.
    Â»Mach schon!«, tönte Jaromirs Stimme aus der Warteschlange zu ihm herüber. »Damit du noch was abkriegst!«
    Darek reagierte nicht. Wie benebelt sah er sich die Blutlache neben dem Wagen an. Es war ein großer Lastwagen für den Transport von Tieren. Manchmal sah Darek solche Laster auf den Straßen. Meist hatten sie keine Aufschrift. Dieser hier hatte eine blaue Fahrerkabine und auf der Seite ein Logo. Ein Logo, das Darek gut kannte. Das Bild des rennenden Pferdes wirkte auf dem himmelblauen Hintergrund romantisch, die Aufschrift Horse Buddy weckte Sympathien. Darek stellte sich auf einmal vor – nein, es war keine Vorstellung, in einem plötzlichen Durchdringen des höheren Bewusstseins konnte er ganz klar sehen, wie der Lastwagen durch eine flache Landschaft fuhr, wie der Fahrer rauchte, mit dem Beifahrer plauderte, mit seinen Kindern telefonierte, mit ihnen lachte und sie fragte, wie es in der Schule war, und dabei den Laderaum hinter sich überhaupt nicht wahrnahm. Den mit Verzweiflung geladenen Raum, der bis zum letzten Fleck mit lebendigem Pferdefleisch vollgestopft war. Es war ein heftiges, blendendes Aufblitzen der Hellsicht. Es dauerte nur kurz, aber Darek war trotzdem jedes Details bewusst. Im Anschluss überkam ihn eine Hitzewallung und ihm wurde so schlecht, dass er es kaum schaffte, hinauszulaufen. Er übergab sich ins Gras hinter dem Speisesaal, den Geruch von Rostbraten und Vanille immer noch auf der Nasenschleimhaut, vor Augen den abgehackten Stumpf des Pferdebeines. Er übergab sich und wusste, dass er die erweiterten Pupillen des panischen Tieres stets

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