Orangentage
nach Hause mitnehmen zu dürfen.
Darek sah sich die beiden Bilder mit düsterer Miene an. Es war dasselbe Erholungsheim, in das Mutter mit Ema gefahren war, aber daran erinnerte sie sich wahrscheinlich nicht mehr. Ãberhaupt kam es ihm so vor, als ob Mutter aus Emas Gedächtnis langsam, aber unwiederbringlich entschwand. Bald würde Marta ihren Platz eingenommen haben. Und wieso? Nur deshalb, weil Martas Leben nicht von einem Ereignis durchkreuzt worden war. Die Lebenden waren den Toten gegenüber im Vorteil. Darek fand das ungerecht und spürte, dass er sich damit nie würde abfinden können, aber er hatte keine Waffen, mit denen sich Marta bekämpfen lieÃ. Er hatte nicht einmal Argumente â im Gegenteil, alles sprach für sie. Sie spielte nicht Mami, sie machte sich nicht breit bei ihnen, durch sie lief alles gut zu Hause. Sie tat, was nötig war, und sie tat es so sorgfältig, dass auch Frau Kotschi und ihre Kolleginnen vom Familienzentrum beruhigt waren. Sie hatten Marta ihr Vertrauen geschenkt und aufgehört, von Pflegefamilien und anderen Einrichtungen zu sprechen und im Dorf auf den Klatsch zu hören. Frau Kotschi und Co. hatten begriffen, dass es nichts zu lösen gab. Martas Einfluss war auch beim Vater spürbar, er verbrachte mehr Zeit zu Hause als in der Kneipe. Dafür war Darek Marta allerdings dankbar. Den Rest, was auch immer er darüber dachte, musste er in Kauf nehmen.
»He, du Frechdachs! Der Sockel ist nicht zum Sitzen da!«, tönte es plötzlich über ihm. Er blickte hoch. Ein weiÃhaariger Mann wedelte mit einem Spazierstock entrüstet vor ihm herum.
»Wozu ist er denn da?«, fragte Darek.
»Schau, dass du hochkommst!«
»Erklären Sie mir erst, wozu der Sockel da ist.«
»Er stützt die Marienstatue, siehst du das denn nicht?«
Darek hob den Blick. Ãber ihm ragte eine Säule auf und darauf stand eine steinerne Frauengestalt in wallendem Gewand.
»Schön. Wie lange ist sie denn schon da?« Er zog das Gespräch in die Länge. Immer noch fühlte er die Müdigkeit in seinen Muskeln und hatte überhaupt keine Lust, seine gemütliche Position zu wechseln.
»Sie steht hier schon fast dreihundert Jahre«, antwortete der alte Mann mit solchem Stolz, als hätte er die Jungfrau Maria damals eigenhändig aufgestellt.
»Und warum?«
»Was warum?«
»Warum steht sie hier?«
»Warum wohl!« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wozu gibt es wohl Heiligenstatuen!«
»Ich weià es nicht.«
»Sie halten die Hand schützend über uns.«
»Ich kapiere. Ihr habt sie hier als euren Bodyguard.«
Der Stock des Alten machte einen gereizten Wink.
»Stehst du nun endlich auf? Warum setzt du dich nicht auf die Bank?«
Er blickte gekränkt drein. Offenbar war er überzeugt, dass Dareks Hintern auf dem Sockel die Jungfrau Maria beleidigen und sie es sich mit dem Beschützen anders überlegen könnte. Darek überwand sich und stand auf. Seine FuÃsohlen brannten, aber sonst war es erträglicher, als er erwartet hatte â in angespannten Muskeln machte sich Müdigkeit weniger bemerkbar als in den gelockerten. Er trat einige Schritte zurück und hob erneut die Augen zur Statue. Er konnte die Züge im Steingesicht nicht genau erkennen, dafür war die Säule zu hoch, aber es schien ihm, dass Marias Mundwinkel nach oben gezogen waren. Sie sah nicht leidend aus, sie lächelte. Ãhnlich wie die am Rückspiegel in Antons Auto. Darek lief ein Schauer über den Rücken.
»Sie beschützt auch Mistkerle«, bemerkte er. »Wussten Sie das?«
»Mistkerle?«, wiederholte der Mann, und der Ãrger, der für eine Weile aus seinem Gesicht gewichen war, kehrte wieder zurück. »Was redest du da? Warum sollte sie das tun?«
»Sie ist neutral.«
»Neutral ist die Schweiz!«, gab der Alte zurück. Dareks Bemerkung brachte ihn in Rage, er wedelte mit seinem Spazierstock wild in der Luft herum. »Kein Heiliger kann neutral zu Mistkerlen sein! Und die Heilige Mutter schon gar nicht! Wo hast du denn so einen â¦Â«
Seine Worte wurden vom Dröhnen des ankommenden Busses übertönt. Darek packte seinen Rucksack und hängte ihn sich über die Schulter.
»Ich wollte Sie bloà warnen«, sagte er. »Behalten Sie sie im Auge. Sie hilft jedem, der gut beten kann. Und manche Schweine
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