Orchideenhaus
wenn dir klar war, dass du Männer liebst und nie wirklich etwas für mich empfinden würdest? Ich weiß, du bist schüchtern, Harry, aber für grausam hatte ich dich bisher nicht gehalten …«
»Bitte, Olivia, ich schwöre dir, ich empfinde etwas für dich, und nach dieser Nacht weiß ich, dass das, was du gesehen hast, nichts für mich ist.«
»Wie einfach, das jetzt zu behaupten, wo ich dich ertappt habe. Ist dir klar, dass man dich deswegen unehrenhaft aus der Armee entlassen könnte? Und deine Eltern, deine armen Eltern.« Sie schüttelte den Kopf. »Deine Mutter fragt die ganze Zeit, wann ich gedenke, den nächsten Erben in die Welt zu setzen. Harry, wie soll ich das ertragen?«, stöhnte sie.
»Schatz, bitte nicht weinen.« Er wollte auf sie zugehen, doch sie hob abwehrend die Arme.
»Fass mich nicht an!«
Sie blieben eine ganze Weile stumm sitzen.
»Olivia«, begann Harry schließlich, »es ist nichts Ungewöhnliches, wenn Männer … gegen ihre Natur ankämpfen. Ich schwöre dir, nach heute Nacht weiß ich, wer ich bin. Wenn du es zulässt, werde ich mich bemühen, zum Gelingen unserer Ehe beizutragen. Ich gebe zu, dass das in der Bibliothek falsch war, aber ich habe mich mit den besten Absichten darauf eingelassen. Wenn du es dir nur erklären lassen würdest …«
»Bitte erspar mir die Einzelheiten.« Olivia seufzte tief. »Ich denke, wenn wir uns beide beruhigt haben, sollten wir darüber sprechen, was wir tun. Ich muss entscheiden, ob ich mit den Gegebenheiten leben kann.« Sie hob den Blick. »Willigst du, wenn ich es nicht kann, in die Scheidung ein, Harry?«
Harry sah sie entsetzt an. »In unserer Familie hat es noch nie eine Scheidung gegeben.«
»Vielleicht hat es in deiner Familie ja auch noch nie einen Homosexuellen gegeben!«
Harry zuckte zusammen. »Bitte hör auf damit, Olivia!«, flehte er sie an. »Das bin ich nicht. Ich habe tatsächlich eine Weile mit der Möglichkeit geliebäugelt, weswegen ich es ja herausfinden musste. Aber glaube mir, Schatz, ich bin nicht homosexuell. Heute ist mir vieles klarer. Deswegen bin ich zu dir gekommen. Ich wollte endlich die Ehe vollziehen.«
»Sehr großmütig von dir, Harry, doch leider kann ich dir nicht glauben. Ich habe nicht den Eindruck, dass du mich liebst, und wünschte, ich hätte mich nie in dich verliebt. Wenn du mich jetzt bitte schlafen lassen würdest. Wir haben morgen einen anstrengenden Tag vor uns.« Sie schaute ihn an. »Und ich möchte, dass du mir eines versprichst.«
»Alles, Olivia, Schatz.«
»Versprich mir, dass du dich von mir fernhältst, solange ich nicht zu einem Entschluss gelangt bin.«
»Selbstverständlich«, antwortete er traurig. »Das kann ich verstehen.«
22
In den folgenden Wochen hätte Olivia keine Angst haben müssen, dass Harry sie anfassen würde, weil dieser kaum jemals zu Hause war.
Er arbeitete mit seinen Männern rund um die Uhr an der Küstenbefestigung von North Norfolk. Lebensmittel waren inzwischen rationiert, und ein Vertreter des Landwirtschaftsministeriums hatte in Wharton Park nachgefragt, wie sich die brachliegenden Felder nutzen ließen.
Olivia hatte die örtliche Rekrutierungsstelle aufgesucht, um sich als Wren zur Marine zu melden. Als die Frau dort jedoch hörte, dass Olivia in Wharton Park wohnte, riet sie ihr, mit der Leiterin der Women’s Land Army zu sprechen, um herauszufinden, ob diese nicht besser für sie geeignet wäre.
»Etliche junge Frauen sollen auf den Gütern im Bezirk – auch auf dem Ihren – einquartiert werden, was bedeutet, dass Sie aufgrund Ihrer Referenzen vermutlich genau das sind, was die WLA benötigt.«
Olivia suchte die Leiterin auf, die begeistert war über die Aussicht, eine Frau zu bekommen, die etwa im gleichen Alter war wie die Mädchen und bereits auf einem Gut lebte. Olivia übernahm die Aufgabe der Organisationssekretärin für das Gebiet und war als solche zuständig für die Verhandlungen mit den örtlichen Farmen darüber, wie viele Mädchen zur Arbeit gebraucht wurden und wo man sie am besten einquartierte.
Diese Aufgabe sowie ihr Versuch, Adrienne trotz des drastisch
reduzierten Personals bei der Führung des Haushalts unter die Arme zu greifen, füllten Olivias gesamte Zeit.
Dass ihr kein freier Moment zum Nachdenken blieb, half ihr, den Schmerz über die Geschehnisse zu verdrängen. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, über sich selbst oder ihre Zukunft nachzugrübeln. Ironischerweise spendete die allgemeine Lage ihr Trost, und
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