Orchideenhaus
Geschmack nicht streiten, oder?«
»Nein. Klingt ganz, als hätte er Julia glücklich gemacht.«
»Es schien so, ja. Ich war froh, als es ihr nach dem Verlust unserer Mutter endlich gelang, sich jemandem emotional zu öffnen. Nach ihrem Tod hat Julia sich sehr verändert, sich zurückgezogen. Von mir, von Dad, von allem, nur nicht von ihrem geliebten Klavier. Und jetzt schaut sie nicht mal mehr das an.«
»Haben Sie sie gefragt, warum?«
»Ich glaube, ich weiß es«, antwortete Alicia. »Sie hatte gerade einen Auftritt in Paris mit einem Klavierkonzert von Rachmaninow absolviert, als sie telefonisch vom Tod der beiden erfuhr.« Alicia zuckte mit den Achseln. »Vermutlich
stellt sie nun innerlich eine Verbindung zwischen Klavier und Schmerz her.«
»Und Schuld«, fügte Kit hinzu. »Wahrscheinlich glaubt sie, sie hätte bei ihnen sein müssen.«
»Ja, möglich. Ich weiß, dass Julia Gabriel nur ungern zurückgelassen hat, wenn sie zu einem Auftritt musste. Sie war, wie viele berufstätige Mütter, zwischen Kind und Karriere hin- und hergerissen.«
»Warum ist sie nach Norfolk gekommen?«, erkundigte sich Kit.
»Ich bin gleich am nächsten Tag nach Paris geflogen, obwohl ich nicht wusste, was mich dort erwartete. Ich konnte sie nicht allein in Frankreich lassen, aber genausowenig bei ihr bleiben, weil ich mich ja um meine eigenen Kinder kümmern musste. Julia stand unter Schock und war nicht in der Lage, rationale Entscheidungen zu treffen, also habe ich sie mit zu mir genommen. Doch sie hat darauf bestanden, in dieses Cottage zu ziehen.«
»Sie brauchte die Einsamkeit. Das kann ich verstehen. Menschen reagieren unterschiedlich auf Tragödien. Ich habe auch einmal jemanden verloren, und die Zeit danach war, gelinde gesagt, alles andere als schön. Wie hat John Lennon es ausgedrückt? « Kit dachte nach. »Ja: ›Das Leben passiert, während man damit beschäftigt ist, andere Pläne zu schmieden.‹ Wie wahr. Man kann das Schicksal nicht lenken. Das müssen wir meist auf schmerzhafte Weise lernen. Je früher uns das gelingt, desto früher sind wir in der Lage, jeden Tag so zu nehmen, wie er kommt, und das Beste aus dem Leben zu machen.«
»Sie sind sehr weise, Kit«, bemerkte Alicia. »Mir macht es Angst, keine Kontrolle zu haben. Aber lassen wir das. Ich muss jetzt los, zurück ans Ruder.« Sie stand auf. »Sonst tanzen die Kinder Max auf dem Kopf herum.«
Kit erhob sich ebenfalls. »Danke, dass Sie mir mehr über meine Patientin verraten haben. Ich werde mein Möglichstes tun, sie wieder auf die Beine zu kriegen, doch die seelische Arbeit muss sie selbst leisten.«
»Ich weiß«, sagte Alicia und ging zur Tür. »Danke, Kit, für Ihre Hilfe.«
»Es war mir ein Vergnügen.«
Eine Stunde später, nachdem Julia die Toilette benutzt und festgestellt hatte, dass sie nicht mehr so wacklig auf den Beinen war, wagte sie sich zum ersten Mal seit Tagen die Treppe hinunter.
Kit saß bei zugezogenen Vorhängen mit einem Buch vor dem Kamin. Das Wohnzimmer wirkte sehr viel einladender und behaglicher als sonst.
»Hallo«, begrüßte sie ihn von der Treppe aus, um ihn nicht zu erschrecken.
Er wandte sich zu ihr um und stand sofort auf. »Julia! Was machst du denn hier unten? Du holst dir noch den Tod.«
Er schickte sich an, sie wieder die Treppe hochzuscheuchen, doch sie schüttelte den Kopf. »Wie soll das gehen? Hier drin ist eine Bullenhitze. Außerdem langweile ich mich oben. Ich brauche Tapetenwechsel.«
»Na schön, aber nicht lange.« Er nahm ihren Arm und führte sie zum Sofa. »Leg dich hin; ich hole dir von oben ein paar Decken.«
»Wirklich, Kit, es ist angenehm warm hier, und ich habe die Nase voll davon, in meinem eigenen Saft zu braten«, widersprach sie, während sie den Kopf auf die Kissen legte, die er ihr darunterschob.
»Hast du Hunger oder Durst?«, erkundigte er sich. »Soll ich dir etwas bringen?«
»Nein danke. Bitte setz dich. Alles bestens.«
»Soll heißen: Hör auf, mich zu bemuttern«, sagte Kit und nahm im Sessel beim Kamin Platz. »Sorry.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Kit«, meinte Julia zerknirscht. »Du hast mich aufopfernd gepflegt, und dafür bin ich dir dankbar. Ich habe nur einfach ein schlechtes Gewissen. Tut mir leid, wenn ich mürrisch war.«
»Entschuldigung angenommen.« Kit nickte. »Mir ist mürrisch lieber als krank und verwirrt.«
»Wie du siehst, geht’s mir besser. Es steht Ihnen also frei, mich morgen meinem Schicksal zu überlassen, Dr.
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