Orchideenhaus
Wasser mehr sprudelte.
Auf dem Weg zurück zum Haus hatte Julia das Gefühl, als wäre sie durch einen Spiegel getreten. Sie trug nach wie vor
den Schmerz über den Verlust ihres Mannes und ihres kleinen Sohns sowie die Angst davor im Herzen, glücklich zu sein, doch Kits Liebe verlangte ihr so viel weniger ab als die von Xavier.
»Liebling«, hatte Kit nach ihrem ersten Mal miteinander gemurmelt. »Ich weiß, dass du Zeit brauchst, die Vergangenheit zu bewältigen. Falls du irgendwann das Gefühl haben solltest, dass du mehr Raum benötigst oder ich dich einenge, bin ich nicht beleidigt, wenn du dich zurückziehst.«
Jetzt, drei Monate später, verspürte Julia dieses Bedürfnis immer noch nicht. Im Haus gab es genug Platz, und da Kit das Angebot von Mr. Hedge-Fonds ausgeschlagen hatte und fast jeden Tag auf dem Gut arbeiten musste, war sie oft genug allein, um sich nicht eingeengt zu fühlen.
Trotzdem fühlte sie sich nie einsam, dachte sie, als sie in die Küche trat. Obwohl sie früher kaum je einen Fuß in dieses Haus gesetzt hatte und niemals im ersten Stock gewesen war, erschien ihr alles vertraut.
Vielleicht lag es daran, dass Elsie ihr so lebhaft von der Vergangenheit erzählt und das Gebäude sich seit damals so wenig verändert hatte. Julia liebte die Atmosphäre und brachte Stunden damit zu, die Flure entlangzugehen, sich mit allen Winkeln und Ecken, mit jeder verblichenen Quiltdecke und jedem verstaubten Ornament vertraut zu machen, die die Geschichte heraufbeschworen.
Außerdem war Sommer, und vieles, was im Haus der Reparatur bedurfte, fiel nicht so sehr auf wie im Winter: das undichte Dach zum Beispiel oder die uralte Heizungsanlage, die die gusseisernen Heizkörper und das Badewasser bestenfalls lauwarm werden ließ.
Dass sie praktisch zu Kit gezogen war, hatten sie nie ausführlich besprochen. Es hatte sich halt so ergeben, in beiderseitigem
Einverständnis. Nach den schwierigen Anfängen ihrer Beziehung war alles zwischen ihnen ganz einfach. Alles lief nach einem lockeren Ritual ab: Kit kam immer gegen sechs Uhr abends in die Küche, wo sie sich bei einem Abendtrunk über den Tag unterhielten, während sie gemeinsam das Essen zubereiteten. Julia freute sich über ihre neu erworbenen Kochkünste. Danach zogen sie sich oft schon früh ins Bett zurück, um sich zu lieben. Sie gingen nur selten aus, weil es keiner Anregung Dritter bedurfte und sie lieber Zeit miteinander oder allein verbrachten.
Kit schien tatsächlich zu verstehen, dass der Kummer über Julias Verlust sich hin und wieder unerwartet meldete. Eine Erinnerung, ausgelöst durch eine Bemerkung, machte sie nachdenklich und schweigsam. Er ließ sich nicht von ihrer Vergangenheit einschüchtern, akzeptierte sie und drängte sie nie, darüber zu reden, wenn sie das nicht selbst wollte.
Ihre Beziehung mit Kit unterschied sich völlig von der mit Xavier: Bei Kit gab es keine Großspurigkeit wie bei ihrem Mann, keine Auseinandersetzungen und nur selten emotionale Unsicherheit und jähe Stimmungsumschwünge, die das Leben mit Xavier so anstrengend, aber auch so aufregend gemacht hatten.
Die Beziehung mit Kit besaß Stabilität, dachte Julia, als sie nach oben ging, um das Bett zu machen, Zufriedenheit und Ruhe, die zu ihrem Genesungsprozess beitrugen. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Anwesenheit in Kits Leben die gleiche Wirkung auf ihn hatte wie die seine auf ihres.
Seit Kurzem wusste sie, dass er die vergangenen zehn Jahre durchaus nicht damit verbracht hatte, sich in »Selbstmitleid zu suhlen«, sondern sie vielmehr dazu genutzt hatte, seine Fähigkeiten unermüdlich in den Dienst von Wohltätigkeitsorganisationen auf der ganzen Welt zu stellen.
»Dass ich mein eigenes Leben nicht mehr allzu hoch schätzte, ermöglichte es mir, an Orte zu reisen, an die sich die meisten anderen nicht wagten«, erklärte Kit, als er von seinen Abenteuern in den Krisengebieten der Erde erzählte. »Aber bitte lob mich jetzt nicht, Julia, denn ich bin nur vor mir selber weggelaufen.«
Seine Erfahrungen hatten ihn zu einem klugen, mutigen und überdies bescheidenen Mann gemacht. Erst ganz allmählich offenbarte er ihr seine Pläne für die Zukunft: Er wolle traumatisierten Kindern helfen und sie behandeln.
»Ich habe so viele Unschuldige leiden sehen«, sagte er eines Abends beim Essen. »Vermutlich war mein Einsatz für die Kinder der Ausgleich dafür, dass ich mich auf der privaten Ebene nicht mehr traute, mich auf etwas einzulassen. Sie brauchten
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