Orchideenstaub
Darmstadt zurück. Danach hörte ich lange Zeit nichts mehr von ihm. Irgendwann muss er sich in einer stillen Stunde an seine Tochter erinnert haben und fing an, mir Briefe zu schreiben. Beantwortet habe ich allerdings keinen davon.“
Sam war kurz davor, sie zu fragen, warum sie keinen seiner Briefe beantwortet hatte, entschied sich aber dann dagegen, weil es ihm doch zu persönlich erschien.
„Sie sagten irgendwo in Südamerika? Hatte er keinen festen Wohnsitz?“, warf Juri ein und kaute auf dem Ende seines Kugelschreibers herum.
„In Argentinien lebten wir ziemlich zurückgezogen. Keine sozialen Kontakte. Und als eines Tages zwei Männer nach ihm fragten, sagte er uns, er müsse für kurze Zeit verreisen.“
„Können Sie sich noch daran erinnern, was für Männer das waren?“
„Sie sahen aus, wie man heute FBI-Beamte im Fernsehen zeigt. Düster dreinblickend, wortkarg. Einer trug sogar eine Waffe, soweit ich mich erinnere. Sie blieben etwa drei Stunden bei uns im Haus, sahen alles durch und als mein Vater nicht kam, verschwanden sie wieder. Noch am selben Abend packte mein Vater seine Sachen. Er schickte mich mit dem nächsten Flugzeug zurück nach Deutschland mit der Begründung, dass meine Mutter mich sehen wolle, was nicht ganz der Fall war. Und die Angestellte mit dem dicken Bauch ließ er einfach im Haus zurück. Die Briefe, die ich später nach Jahren erhielt, kamen aus verschiedenen Orten in Brasilien. Er war wohl immer auf der Flucht vor diesen Männern. Und die Nachricht von seinem Tod kam, glaube ich, aus Kolumbien.“
Die Miltonia-Orchidee kam aus Kolumbien, schoss es Sam durch den Kopf. „Wann war das ungefähr?“
„Das kann ich Ihnen genau sagen. Ich habe sie trotz allem aufbewahrt.“ Sie beugte sich runter zu einem kleinen hellbraunen Lederkoffer und zog ihn unter dem Regal vor, ohne den Hund vom Schoß zu nehmen. In dem Koffer waren haufenweise Briefe und andere Papiere. Sie fischte ein gefaltetes Papier daraus hervor und las die Zeilen laut vor. „Hier steht: Nach einer schweren Malariaerkrankung verstarb Heinrich Thiel um zehn Uhr dreißig des Datums 3. März 1963 in der Clinica Javier Ruiz in Bogota . Sprechen Sie Spanisch?“
Sam nickte und Doris Thiel reichte ihm die Sterbeurkunde, damit er sich selbst davon überzeugen konnte.
„Warum meinen Sie, war Ihr Vater auf der Flucht?“, fragte währenddessen Juri.
„Das lag wohl an seiner Tätowierung unter dem Arm. Das Zeichen der SS. Ich habe ein wenig später mehr darüber erfahren. Die Amerikaner haben nach Kriegsende besonders nach dieser speziellen Tätowierung bei den Deutschen gesucht und die Kriegsverbrecher in Gefangenenlager gesteckt. Mein Vater, der offensichtlich ein Nazi war, konnte damals mit Hilfe eines Bischoffs in Italien, der ihm die Papiere und das Visum besorgte, nach Argentinien fliehen. Das habe ich später von meinem Großvater erfahren.“
War es nicht das zweite Mal, dass im Zusammenhang mit den Fällen der Begriff Nazi fiel? Inspektor Germain hatte die Injektionen ins Herz erwähnt. Und trotzdem ergab alles überhaupt keinen Sinn.
„Sie sind keine Ärztin geworden, oder?“ Sam hatte die Titel auf den Buchrücken in den Regalen überflogen. Es waren fast ausschließlich Romane, keine Fachbücher für Mediziner.
„Nein.“ Sie lachte das erste Mal wieder. „Nachdem ich gesehen habe, wie viele Leute unter der Hand meines Vaters starben, dachte ich, es wäre besser, die Finger von dem Beruf zu lassen.“
„Was meinen Sie damit, es starben viele Leute?“, fragte Juri neugierig.
„An Infektionen, glaube ich. Ich kann mich aber auch nicht mehr so genau daran erinnern. Ich war ja noch ein Kind. Aber mir ist in Erinnerung geblieben, dass wir ziemlich oft auf irgendwelchen Beerdigungen waren. Patienten meines Vaters.“
„Was für ein Arzt war Ihr Vater?“
„Er arbeitete hauptsächlich als Gynäkologe, operierte aber auch am Blinddarm … irgendwie hat er alles gemacht.“
Ein lautes Knacken in Juris Mund durchbrach die kurze Stille. Er hatte es endlich geschafft, seinen Stift durchzubeißen. Sam sah die Anspannung in seinem Gesicht.
Ihm selbst ging es nicht anders, aber er war auch verwirrt. Konnte diese Entdeckung bedeuten, dass dem nächsten Opfer die Gebärmutter entfernt wurde? Und wer war das nächste Opfer? Doris Thiel selbst, eine der letzten Überlebenden?
Sie erzählten ihr in Kurzform von den beiden anderen Fällen und dass sie vermutlich in Gefahr schwebte. Doch Doris Thiel
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