Orchideenstaub
wurden wieder lebendig. Das Licht aus dem Aktenraum. Der Junge, der plötzlich verschwunden war. War er hierher gebracht worden? Aber wozu? Sie erinnerte sich wieder daran, was Nathalia ihr erzählt hatte. Rafael war früh morgens um vier hier unten gewesen. Was hatte sie noch gesagt? Er war aus dem Aktenraum gekommen. Lea überzog eine Gänsehaut.
Ihr Bruder hatte immer in die Forschung gehen wollen. Konnte es sein, dass er hier unten still und heimlich irgendwelche Experimente machte. Vielleicht sogar an Menschen? Menschen, nach denen niemand mehr fragte, wie Alfonso Villegas und die Blumenfrau. Nein, sagte sie sich, nicht Rafael mit seinem engelsgleichen Aussehen. Er war derjenige, der den Armen der Stadt half, der zu Weihnachten mit ihrer Mutter in die Heime fuhr und den Kindern Geschenke brachte, der Behinderte aufnahm, auch wenn die Kosten für die Pflege von den Angehörigen nicht gedeckt wurden. Nein, nicht ihr Bruder.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke in den Sinn. Ihr Vater. Er hatte dieses Heim erbauen lassen. War er für diesen Trakt verantwortlich? Ja, so musste es sein. Wahrscheinlich wusste Rafael gar nichts davon. Doch dann sah sie Fußspuren in der Erde. Fußspuren, die unmöglich fünfzehn Jahre alt sein konnten, denn so lange war ihr Vater bereits an den Rollstuhl gefesselt und hatte seitdem das Heim nicht mehr betreten.
44.
BERLIN „Es fing an, als ich zwanzig war“, begann Rafael. „Sie hieß Maya, war bildhübsch, intelligent und ich war total verknallt.“ Die kurze Erinnerung entlockte Rafael ein kleines Lächeln. „Sie wollte auch in die Forschung gehen wie ich und hatte gerade einen Studienplatz bekommen. Alles war perfekt mit ihr. Wir verstanden uns ohne Worte. An einem Freitag wollte sie auf die Finka zu ihren Eltern nach Santa Rosa fahren. Sie meinte, sie hätte eine Überraschung für mich, die sie mir aber erst am Abend sagen wolle, nachdem sie mit ihren Eltern gesprochen hatte. Von der Finka kam sie nie wieder zurück. Sie war dort nie angekommen. Monatelang suchte ich nach ihr, ließ Sammelgräber von den Paramilitärs öffnen, wandte mich sogar an Leute der Guerilla, damit sie mir halfen. Nichts. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Gut, in der Zeit verschwanden viele Menschen in Kolumbien und tauchten nie wieder auf und bis heute suchen Familien noch nach ihren Angehörigen. Ich dachte, ich hätte einfach nur Pech gehabt.“
Rafael machte eine Pause und nippte an seinem Becher Kaffee, der schon längst kalt war. Er verzog angeekelt das Gesicht und setzte seine Geschichte fort: „Natürlich hatte ich die darauf folgenden Jahre immer mal hier und da Liebschaften, allerdings nur von kurzer Dauer. Längstenfalls ein Jahr. Es war keine dabei, die mein Herz ganz für sich gewinnen konnte. Und dann traf ich irgendwann auf Sofía. Sie hatte das schönste Lächeln, das ich je gesehen habe und eine verblüffende Ähnlichkeit mit Maya. Olivfarbene ebenmäßige Haut, lange schwarze Haare und haselnussbraune Augen. Sie war zwar vom Wesen anders, oft stur und uneinsichtig, trotzdem verliebte ich mich sofort in sie.“
Bis auf die Augenfarbe hatte Rafael eine genaue Beschreibung von Lina abgegeben, fand Sam und lauschte gespannt dem weiteren Verlauf der Geschichte.
„Ich dachte es wäre ein Zeichen. Nach nur drei Monaten wurde sie schwanger und wir machten sofort Heiratspläne. Sie wollte eine große Hochzeitsfeier haben, die etwas Zeit in Anspruch nahm. Aber nach drei Monaten war es so weit, wir heirateten und zogen sofort zusammen. Kurz danach passierte es, ich erinnere mich noch genau an den Abend. Wir hatten Karten für ein Konzert und wollten vorher noch etwas essen gehen. Ich hatte mein Handy zu Hause gelassen und war nicht erreichbar, deshalb wartete ich zwei Stunden an der Stelle, wo wir uns verabredet hatten. Man fand ihre Leiche ausgeweidet am Straßenrand. Den Fötus hatte man tot danebengelegt.“ Er ließ seine Worte eine Weile wirken.
Juri und Sam tauschten einen Blick aus. War es Zufall, dass auch bei dieser Frau der Fötus rausgeschnitten worden war?
„Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Ich schwor mir selbst, mich nie wieder zu verlieben, doch wie das Leben so spielt …“, Rafael lächelte gequält, „Lief mir ein paar Jahre darauf Clara über den Weg. Ich wagte es noch einmal, wollte aber nicht den gleichen Fehler wie das letzte Mal machen. Ich verheimlichte vor jedem meine neue Beziehung, denn ich wollte das Schicksal nicht mehr
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