Ordnung ist nur das halbe Leben
– und damit auch mich. Für einen Moment fühlte ich mich wie als Kind, wenn er »Flugzeug« mit mir spielte und mich im Garten wie im Karussell herumwirbelte, bis uns schwindlig wurde und wir uns beide lachend ins Gras warfen.
Leider war ich seitdem ungefähr dreißig Kilo schwerer geworden. Die Hände meines Vaters rutschten von meiner Taille, hielten sich nur noch an dem zarten Stoff meines Kleides fest. Ich klammerte mich mit verkrampften Fingern an seine Schultern, aber die Fliehkraft war stärker. Mit einem Ruck löste sich plötzlich unsere Verbindung, ich landete auf den Füßen, hatte aber noch so viel Schwung und so wenig Gleichgewichtssinn, dass ich weder stehen bleiben noch die Richtung bestimmen konnte. Wie eine abgesprengte Raumkapsel schoss ich führungslos durch den Tanzsaal direkt auf Jens zu, der mit dem Rücken zu mir an der Bar stand.
Typisch. Schaute mir noch nicht mal beim Tanzen zu und hatte von dem Spektakel nichts mitbekommen.
Ich schrie: »Ahhh!«
Er drehte sich um, ich prallte gegen ihn und rammte ihm dabei den linken Ellbogen gegen das Brustbein. Meine rechte Hand geriet irgendwie in seinen Mund, und mit dem super gefeilten Nagel des Zeigefingers ratschte ich ihm das Zahnfleisch auf.
»Auuu«, brüllte er, als hätte ich ihm die Zunge amputiert, dann japste er nach Luft wegen des Schlags auf den Solarplexus.
»Oh, mein Schatz, es tut mir so leid«, sagte ich.
Er keuchte und hielt sich stöhnend den Mund. Oh Gott. Wie peinlich! Wie konnte ich nur mit meiner Hand in seinen Mund geraten? Wie?
»Das war ein Spaß, was?«, dröhnte mein Vater, der schwitzend neben mir auftauchte, meine Mutter im Arm, die vor sich hin kicherte.
Jens richtete sich auf, hielt sich die Wange, schaute von meinen Eltern zu mir und sagte dann zornig: »Ist denn diese ganze Familie komplett verrückt?«
»Was? Ich … Nein …«, stammelte ich. Er drängte sich durch die staunende Menge und verschwand auf der Toilette.
Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, sagte meine Mutter: »Schicken BH hast du an.«
»Waaaaass?«, kreischte ich.
»Dein Kleid ist hinten gerissen.«
»Oh nein!« Ich fühlte mit der Hand auf meinen Rücken – und tatsächlich. Offensichtlich hatte die Naht des Reißverschlusses dieser Art Beanspruchung nicht standgehalten. Mein Kleid hatte eine klaffende Wunde.
»Was mache ich denn jetzt?«, fragte ich entsetzt.
»Hier nimm das«, sagte meine Mutter, nahm ihren blau-grünen Seidenschal ab und wickelte ihn mir um die Taille. »So. Siehst du! Mit ein bisschen Farbe ist das doch alles gleich noch viel schicker!«
Ich floh zu meinen Freundinnen, die noch am Tisch saßen und sich unterhielten. Ellen hatte vor Kurzem abgestillt und nutzte die Gelegenheit, dass sie wieder Alkohol trinken durfte und dass ihre Mutter den kleinen Fritz mit nach Hause genommen hatte.
»Wie siehst du denn aus?«, fragte Saskia. »Ist das die Geschenkverpackung?« Sie deutete auf den Schal mit der Schleife.
»Ha, ha.«
»Das ist die berühmte Steckelbach-Eleganz«, kicherte Ellen, die schon deutlich beschwipst war.
»Noch mal: Ha, ha. Mein Vater hat mein Kleid zerrissen, ich habe meinem Verlobten verletzt, und er ist stinksauer auf mich!«
»Ach, der regt sich schon wieder ab«, sagte Saskia.
»Komm, trink mal was. Dann sieht die Welt schon wieder vieeeel besser aus«, schlug Ellen vor und griff zum Wein.
»Nein, danke.«
»Wir feiern aber gerade Saskias ersten Fall, den sie ganz alleine vor Gericht bestritten und gewonnen hat!« Ellen klopfte anerkennend auf Saskias Bein.
»Ja, das ist toll!«, sagte ich, musste mich aber wegen meines eigenen Kummers zu einem Lächeln durchringen.
»Wir haben den Ex meiner Mandantin fertiggemacht«, erzählte Saskia. »Wir haben rausgefunden, dass er schon vorher jahrelang fremdgegangen ist. Ich habe eine Zeugin gefunden, die hat es echt gebracht – seine Glaubwürdigkeit war dahin, und meine Mandantin hat ordentlich abkassiert! Und wir auch. Es gibt einfach nichts Schöneres als so eine richtige Scheidungsschlammschlacht.« Ihre braunen Augen leuchteten.
»Auf die beste Scheidungsanwältin weit und breit«, sagte Ellen und hob wieder ihr Glas.
»Und darauf, dass wir ihre Dienste niemals selbst in Anspruch nehmen müssen«, fügte ich hinzu und stieß mit meinen Freundinnen mit Wasser an.
»Warum trinkst du eigentlich nie, nie, niemals Alkohol?«, fragte Ellen, schon leicht lallend.
»Es schmeckt mir nicht, und ich vertrage es nicht«, antwortete
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