Ordnung ist nur das halbe Leben
Dublins Gassen streifte, um lebende Muscheln anzupreisen. Danach sangen wir noch andere irische Lieder – na ja, er mehr als ich, aber es war auf jeden Fall sehr lustig.
»Das war die Lieblingskassette von meinem Opa, und ich musste sie immer hören, wenn ich mit ihm gefahren bin«, erklärte er, als ich mich über seine Textsicherheit wunderte.
»Letzte Woche ist er gestorben«, sagte er.
»Oh«, sagte ich erschrocken. »Das tut mir leid.«
»Ja, mir auch. Und um meiner Oma am Anfang ein bisschen zu helfen, wohne ich ein paar Wochen bei ihr. Hey«, rief er und vertrieb damit die traurige Stimmung. »Hör dir das an!« Er schob eine neue Kassette hinein mit lustiger italienischer Musik.
Eine knappe Stunde später waren wir in Maastricht. Es war mittlerweile dunkel geworden, aber noch sehr warm. Wir liefen durch ein Tor in der dicken Stadtmauer in die Altstadt. Die Steine der Häuser strahlten noch die Hitze des Tages ab. Es duftete nach Sommer. Plötzlich drang Musik durch die verwinkelten Gässchen zu uns. Wir erreichten einen kleinen Platz vor einer Kirche. In der Mitte standen einige Bäume, deren Äste mit bunten Lampions geschmückt waren. Auf einer Bühne stand eine Gruppe Musiker, die lateinamerikanische Musik spielte. War das Tango? Keine Ahnung.
»Cool«, sagte Lennart begeistert. »Salsa! Da scheinen wir ja genau richtig gekommen zu sein.« Der Platz war schon ziemlich voll. »Lass uns da drüben hingehen.« Er deutete auf die Treppe vor der Kirche und bahnte uns einen Weg durch die Menge. Dabei nahm er wie selbstverständlich meine Hand und zog mich hinter sich her.
»Ich hole uns schon mal was zu trinken«, sagte ich schnell und entzog ihm meine Hand, um auf einen Getränkewagen zu deuten, der am Rand stand.
Mit zwei Limettenlimos bewaffnet kam ich zu ihm zurück. Er hatte einen Sitzplatz auf der Treppe gefunden. Die Musiker stimmten ein besonders schnelles Lied an, und plötzlich fingen die Leute um mich herum an zu tanzen. Ich musste urplötzlich einer Frau ausweichen, die von ihrem Mann herumgewirbelt wurde. Ich machte ein paar Trippelschritte, was bestimmt total bescheuert aussah. Als dann auch noch von links ein Mann herangehopst kam, tänzelte ich nach rechts. Und damit ich nicht vollends wie eine Verrückte aussah, tat ich so, als ob ich das mit Absicht gemacht hätte, und tanzte noch ein paar Schritte weiter.
Lennart sprang auf und kam mit wiegenden Schritten auf mich zu, nahm mir eine Limo aus der Hand und stieß mit mir an. Und dann tanzten wir mitten auf der Straße an einem Donnerstagabend in Maastricht.
Um kurz nach eins waren wir wieder in Köln. Mit großer Erleichterung stellte ich fest, dass der rote Toyota verschwunden war. Als wir vor dem Haus meines Chefs ankamen, stellte er den Motor aus und sagte: »Der Opel Diplomat und ich bedanken uns, dass Sie heute unser Gast waren. Ich hoffe, Sie haben die Fahrt genossen und wir können Sie bald wieder an Bord begrüßen.«
Ich musste lachen und wollte mich schnell verabschieden, aber er stieg schon aus, ging um den Wagen rum und hielt mir die Tür auf. Wirklich aufmerksam für jemanden in zerschlissenen Jeans. Er begleitete mich sogar bis zur Haustür.
»Du hast mich tatsächlich von deinem Auto überzeugt«, sagte ich und wurde etwas verlegen. Um das zu überspielen, versuchte ich lustig zu klingen: »Oldtimer sind doch gar nicht so schlecht.«
»Hab ich ja gesagt«, antwortete er und nahm sanft mein Kinn zwischen seine Finger und hob es leicht an. Eine blonde Strähne fiel ihm ins Gesicht, und ich unterdrückte den Impuls, sie ihm hinters Ohr zu streichen. Er beugte sich näher zu mir. Ich fühlte mich wie gelähmt. Wenn er mich jetzt küssen würde, könnte ich mich nicht wehren.
Küss mich nicht, dachte ich.
»Schlaf gut«, sagte er. »Und träum süß von sauren Gurken.«
Er wartete, bis ich im Haus meines Chefs verschwunden war. Und weil es schon so spät war und ich ein seltsames Glücksgefühl verspürte, das für einen Moment jegliche Reue aus meinem Hirn vertrieb, schnappte ich die ordentlich gefaltete Kaschmirdecke und verbrachte erneut eine Nacht auf dem Massagesessel.
21
Am nächsten Abend traf ich mich mit Ellen und Saskia im Biergarten. Bei Ellen hing gerade der Haussegen schief.
»Und jetzt ist Arne total sauer«, sagte sie und wippte mit der linken Hand am Kinderwagen, in dem Fritz trotz des Trubels im Biergarten gerade eingeschlafen war. »Ihm ist nicht klarzumachen, dass wir auch viel davon haben, wenn
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