Ordnung ist nur das halbe Leben
zwei Knöpfe waren offen, und ein Lederband mit einem weißen Delfinanhänger baumelte auf seiner Brust. Normalerweise fand ich so was ja abstoßend, aber zu ihm passte es. Irgendwie.
»Hey, klasse siehst du aus!«, sagte er.
»Danke!«, rief ich erstaunt. Das nenne ich mal ein Kompliment! Warum konnte Jens mir nicht einmal genauso sagen, dass ich gut aussah?
Ich zog die Tür hinter mir zu und steckte den Schlüssel in die kleine grüne Handtasche von Marc Jacobs, die ich mir auch noch erlaubt hatte zu borgen.
Lennart hielt mir die Tür auf. Ich ließ mich auf den cremefarbenen Ledersitz gleiten. Das Lenkrad war schwarz und ziemlich groß, die Beinfreiheit enorm. Das Armaturenbrett versetzte mich sofort in nostalgische Stimmung, dazu passte mein Kleid fantastisch. Ich fühlte mich fast ein bisschen wie Audrey Hepburn in Ein Herz und eine Krone .
Er startete den Motor und fuhr los. »Wo wollen wir denn hinfahren, gnädige Frau?«, fragte Lennart.
In dem Moment sah ich den roten Bonner Toyota. Er stand auf der anderen Straßenseite mit der jungen Frau hinter dem Steuer. Sie starrte vor sich hin. Ich sog erschreckt die Luft ein und warf mich aus einem Reflex heraus nach vorne und tat so, als ob mir was in den Fußraum gefallen wäre. Ich wusste nicht, wer das war, aber sie machte mir Angst.
»Wie bitte?«, fragte Lennart.
»Wie wäre es mit Maastricht?«, nuschelte ich in meinen Rock, weil es das Einzige war, was mir in dem Moment einfiel.
Das war natürlich total absurd. Niemand fuhr an einem Donnerstagabend mit der fremden Nachbarin mal eben nach Holland rüber.
Aber Lennart rief: »Super Idee! Fahren wir nach Maastricht!«
Ich kam aus meiner Deckung wieder hoch, als wir auf die Hauptstraße abgebogen waren. Ein Blick zurück sagte mir, dass die Luft rein war.
Ich fragte erschrocken: »Echt jetzt? Ist das nicht viel zu weit?«
»Für den Opel Diplomat ist das ein Katzensprung«, rezitierte er wie in einer Werbung. »So können Sie sich ganz von den Vorzügen dieses Autos überzeugen.«
Halleluja. Da hatte ich mir ja was eingehandelt.
»Bist du immer so spontan?«, fragte er, als wir auf den Zubringer zur Autobahn auffuhren.
»Nein«, sagte ich. »Die einzige Sache, bei der ich spontan sein kann, sind Schnäppchenangebote. Ansonsten mache ich immer alle Pläne drei Monate im Voraus.«
Er lachte, als wäre das ein Witz gewesen! Ich sollte ihm mal meinen Terminkalender zeigen. Da hatte ich sogar meinen Zyklus eingetragen, weil ich wegen der zu erwartenden stimmungsmäßigen Unpässlichkeiten an den blöden Tagen überhaupt keine privaten Termine annahm.
»Darf ich mal?«, fragte er und zeigte auf das Handschuhfach.
»Klar«, sagte ich. Er griff an mir vorbei und öffnete die Klappe. Dabei berührte sein Arm meine Beine. Ich konnte die Wärme seiner Haut durch den Stoff hindurch spüren und saß ganz steif da.
»Mal sehen, womit wir uns noch die Zeit vertreiben können«, sagte er und nahm zwei Kassetten heraus. Als er wieder aufrecht saß und eine Kassette in das Deck hineinschob, wurde mir an der Stelle, an der er eben mein Bein berührt hatte, ein bisschen kalt.
»Das Auto gehörte meinem Opa«, sagte Lennart. »Daher auch die topmoderne Ausstattung.« Er deutete auf das Kassettendeck. Es rauschte analog, dann erklangen ein Akkordeon und eine traurige Frauenstimme, die auf Französisch irgendeine jammervolle Geschichte trällerte.
»Ach nöö, das ist viel zu trübselig«, sagte er und schob eine neue Kassette rein. Violinen, Gitarre, ein Banjo: eindeutig irische Musik. Dann fing eine raue Stimme an zu singen – und Lennart schmetterte sofort laut mit. Ein bisschen schräg, aber gar nicht schlecht. »Hey, du musst auch mitsingen.«
»Ich kenne das Lied doch gar nicht!«, protestierte ich.
»Ist ganz einfach«, sagte er. »Es geht um eine Fischhändlerin namens Molly Malone.«
Der Text war in der Tat einfach. Molly schob ihren Wagen durch die Straßen von Dublin und pries frische Muscheln an. Der Refrain wurde dauernd wiederholt: Crying Cockles and Mussels, alive, alive o!
Erst sang ich ganz leise, weil ich noch nie vor jemand anders laut gesungen hatte. Und schon gar nicht vor einem Fremden. Oder vor meinem Verlobten. Nur einmal hatte ich das gemacht, und Jens hatte so gekichert, dass ich es lieber wieder gelassen hatte. Lennart aber drehte das Radio noch etwas lauter, und da konnte ich nicht anders. Ich grölte ebenfalls die Geschichte von Molly Malone, deren Geist noch nach ihrem Tod durch
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