Organic
weiter zertrümmerte es Töpfe, als wären es freche Mäuse.
„Chatt-a-hoo-chee.“ Miss Sadie kostete das Wort aus und nahm dazu einen Schluck Whiskey. „Meine Mom hat uns immer zu Tode erschreckt, wenn sie drohte, uns nach Chattahoochee zu schicken, falls wir uns nicht benahmen.“
„Hat es funktioniert?“
„Mein kleiner Bruder Arliss war ’55 eine Weile dort. Da war er schon lange kein Kind mehr, aber man könnte wohl sagen, dass ihn schlechtes Benehmen dorthin gebracht hat. Die Zeiten waren anders damals. Man kam entweder dorthin oder ins Gefängnis. Anders als heute.“
Sabrina ließ den Kopf zurücksinken und schaute in den Nachthimmel. Irgendetwas in Miss Sadies Stimme ließ alles wie eine Melodie klingen. Vielleicht war es der Südstaatenakzent, zusammen mit ihrer betonten Aussprache jedes einzelnen Wortes, langsam und weich wie Melasse. Das beruhigte Sabrina noch mehr als der Whiskey, mehr als alles andere in ihrem derzeitigen Leben. Die alte Dame war zu einer festen Größe in Sabrinas Leben geworden, der sie nichts erklären musste und die nichts von ihr erwartete.
„Wie geht es Ihrem Daddy?“, erkundigte sich Miss Sadie vorsichtig.
„Ich weiß es nicht“, antwortete Sabrina. „Ich weiß es wirklich nicht.“
Miss Sadie nickte wieder, zufrieden. Mehr musste Sabrina nicht sagen, als würde die alte Frau ihre Unsicherheit und Verwirrung genau kennen, sodass sie sie gar nicht in Worte fassen musste. Sabrina hatte das Gefühl, dass nichts im Leben Miss Sadie noch überraschen konnte. Die alte Dame sagte manchmal, mit ihren einundachtzig habe sie „alles gesehen, und zwar von oben und unten“.
Eine wohltuende Stille kehrte ein, während sie weiter an ihrem Whiskey nippten, und Sabrina versuchte die Ereignisse des Tages zu vergessen. Nach einer ganzen Weile fragte sie schließlich: „Was ist denn aus Arliss geworden?“
Und mit der gleichen melodischen Stimme sagte Miss Sadie: „Fünf Tage, nachdem sie ihn nach Chattahochee gebracht hatten, hat er das Laken seines Bettes zerrissen, es zusammengeknotet und sich aufgehängt.“
16. KAPITEL
Washington D. C.
Abda parkte ein paar Straßen entfernt von seinem Ziel. Es war besser, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Er spuckte die Schalen der letzten Sonnenblumenkerne in seine Handfläche, machte das Fenster auf und warf sie hinaus. Dann suchte er zusammen, was er brauchte, setzte seine Baseballmütze auf und lief zu Fuß zu dem Restaurant.
Es war voll wie immer, aber sie warteten schon auf ihn in der gewohnten Sitzecke. Abda setzte sich ohne ein Wort neben Khaled. In seinem Designer-T-Shirt sah Qasim völlig lächerlich aus. Am liebsten hätte Abda auf das verzierte Logo gezeigt und seinen Freund zur Rede gestellt, weil er so was anzog. Aber er wusste, dass Qasim es nur zur Tarnung trug.
Die Kellnerin namens Rita brachte ihm Kaffee und wusste noch, dass er eine Extraportion Sahne wollte. Sie hatte die drei schon mehrere Male bedient. Sie hielt sie für Studenten und hatte Qasim sogar mal für seinen angeblichen Kurs in amerikanischer Literatur ausgeholfen. Das dicke Buch hatte er noch. Es lag wie immer auf dem Notebook neben der Kaffeetasse. Zwischen den Seiten steckten Zettel, als wolle er bestimmte Stellen markieren.
Qasim spielte seine Rolle ein wenig zu ernsthaft, und Abda machte sich gelegentlich Sorgen, es könnte irgendwann mal keine Rolle mehr sein. Eigentlich hatte Abda immer gedacht, er müsse sich mehr Sorgen um Khaled machen, den ruhigen Intellektuellen, der mit seinen Augen, aber niemals mit Worten Abdas Entschlossenheit, alles Notwendige zu tun, was es auch sein mochte, häufig infrage stellte. Abda wusste, dass Khaled sich selbst als fähiger und entschlossener betrachtete, um bei ihrer Sache die Führung zu übernehmen. Aber die Entscheidungen konnte nur einer treffen, und Rivalität, Meinungsverschiedenheiten oder Misstrauen konnten sie sich nicht leisten. Das wusste Khaled, und er hätte nie seine persönlichen Ansichten über oder vor ihren Auftrag gestellt. Die Vorstellung, das Individuum könne Vorrang haben vor dem Land, war eine egoistische, leichtsinnige Idee des Westens. Abda hoffte, dass auch Qasim das im Auge behielt, wenn er alberne Logo-T-Shirts mit noch alberneren Preisschildern anzog.
Sie bestellten Sandwiches, und sobald die Kellnerin gegangen war, holte Abda sein Analysis-Lehrbuch aus dem Rucksack. Er zog daraus den Umschlag mit dem inzwischen erbrochenen Wachssiegel hervor. Vorsichtig holte er ein einzelnes
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