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vor allem fühlte sie sich sofort geborgen. Nur war das ein trügerisches Gefühl der Sicherheit. Das war ihr durchaus bewusst, aber trotzdem konnte sie zum ersten Mal seit Stunden durchatmen.
Miss Sadie brachte sie in die Küche, ohne stehen zu bleiben oder langsamer zu werden, die Finger noch immer um Sabrinas Handgelenk gelegt. Die alte Frau führte sie zu einem Platz an dem kleinen Küchentisch, wo das Abendessen offensichtlich unterbrochen worden war. Von der Ecke an der Tür nach draußen sah Lizzie zu ihr herauf und setzte dann ihr Abendessen fort, als wäre Sabrinas Anwesenheit eine vorübergehende Ablenkung, aber nicht mehr.
„Wir essen abends immer, während die Sechs-Uhr-Nachrichten laufen“, erklärte Miss Sadie und zeigte auf den kleinen Fernseher, der unter einem Hängeschrank angebracht war. Aus einem Krug auf der Theke goss sie ein Glas Wasser ein und stellte es vor Sabrina hin.
Abwesend hörte Sabrina zu und trank nur von dem Wasser, weil Miss Sadie sie mit einer Handbewegung dazu aufforderte. Der Schmerz in ihrer Brust hatte etwas nachgelassen. Auch das Klopfen in ihrem Kopf war schwächer geworden. Aber jetzt ergriff sie die Erschöpfung, sodass schon das Heben des Glases eine enorme Anstrengung bedeutete.
Plötzlich huschte Miss Sadie durch die Küche, griff nach ihrer Lesebrille, setzte sie auf, während sie gleichzeitig auf den Knöpfen des Fernsehers herumdrückte, bis die Singsangstimme des Nachrichtensprechers des lokalen Senders den Raum erfüllte.
„Da kommt noch mehr“, sagte Miss Sadie und winkte mit der offenen Hand. Sabrina fühlte sich an eine TV-Spielshow erinnert, deren Moderatorin sie zur Gewinnerin erklärte.
Dann fuhr Sabrina auf und saß plötzlich kerzengerade. Sie griff nach dem Tischrand, um sich festzuhalten, als ihr Foto auf dem Bildschirm erschien. Das Foto war schon drei Jahre alt und stammte aus einem Wissenschaftsjournal, das einen ihrer Artikel veröffentlicht hatte. Sie war so verwirrt, dass sie gar nicht mitbekam, was der Sprecher sagte, nur den letzten Teil nahm sie wahr: „... bisher wird sie lediglich als wichtige Zeugin im Zusammenhang mit einem ungeklärten Todesfall bezeichnet.“
Entgeistert starrte Sabrina zu Miss Sadies hinüber. „Sie glauben, ich wäre es gewesen?“ Sie konnte es nicht fassen. Sie musste sich verhört haben.
Anstatt nach Erklärungen zu fragen, stellte die alte Dame den Fernseher leise und setzte sich auf den Stuhl gegenüber. Sie nahm Sabrinas Hände in ihre.
„Wir müssen Sie hier wegbringen, Liebes. Und wir haben nicht viel Zeit.“
52. KAPITEL
Tallahassee, Regionalflughafen
Leon hatte sich in der Ecke des Flughafencafes an einen Tisch gesetzt, von wo er die Regionalnachrichten sehen konnte. Sein Flug ging erst in drei Stunden, aber er war heilfroh, dass es überhaupt einen gab. Er bestellte einen Cheeseburger mit einer Extraportion Zwiebeln und dazu hausgemachte Pommes. Dann bat er die Kellnerin um ein Stück Limonenkuchen, als sie den Burger brachte. Auf keinen Fall würde er Florida verlassen, ohne ein Stück davon gegessen zu haben, zumal sein letztes Essen so schmählich unterbrochen worden war.
Leon nahm einen Schluck aus der Bierflasche, nachdem er das gekühlte Glas beiseitegeschoben hatte. Sie hatte so getan, als wäre es etwas ganz Besonderes. Nicht ihre Schuld. Diese jungen Dinger wussten heutzutage eben nicht mehr, wie ein richtiger Kerl Bier trank. Wie auch, wenn sie nur mit kleinen Jungen ausgingen, die so ein Zeug tranken, das sich Alkopop nannte!
Als sie ihm das Essen brachte, war Leon hochzufrieden. Die hausgemachten Fritten sahen tatsächlich aus wie hausgemacht. Er salzte ordentlich und tränkte sie mit Ketchup, bis sie fast schwammen. Aber vor dem ersten Bissen Burger oder Pommes versuchte er eine Gabel von dem Limonenkuchen. Nicht der Beste, den er bisher gegessen hatte, aber verdammt nah dran. Leon hatte sein halbes Leben damit verbracht, sich von seiner Südstaatenherkunft freizumachen, aber das Essen war eine Ausnahme. Zwar mochte er eigentlich alles; Hotdogs aus Chicago und die Delis von New York, wer konnte dazu schon Nein sagen? Aber er konnte nicht in die Südstaaten fahren, ohne in gekochten Erdnüssen, Maisgrieß mit Käse, süßem Tee und frischem Maisbrot aus der Pfanne zu schwelgen. Und er hielt sich jetzt besser schadlos, denn das würde für eine ganze Weile seine letzte Reise in den Süden gewesen sein.
Er kaute mit vollem Mund und konnte kaum hören, was im Fernsehen gesagt
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