Organic
Miss Sadie abfuhr. Das ganze vergangene Jahr hindurch war sie Sabrinas einzige wirkliche Freundin gewesen, aber natürlich wollte sie die alte Dame nicht auf Dauer von zu Hause fernhalten. In Tallahassee war sie vermutlich sicherer. Inzwischen würde jeder, der nach Sabrina suchte, gemerkt haben, dass sie sich davongemacht hatte. Nur wäre Sabrina nach gerade mal einem halben Tag mit Eric am liebsten wieder mit Miss Sadie zurückgefahren. Da war etwas in Erics neuem Leben, das ihr nicht gefiel. Sie war diejenige auf der Flucht, und trotzdem schien Eric es zu sein, dem ein Leben auf der Flucht völlig vertraut war.
Seine Instruktionen für Miss Sadie hörten sich fast nach einer geheimen Operation an. Sabrina fühlte sich an die Spiele ihrer Kindheit erinnert, wenn Eric gerne Steve Austin war, der Sechs-Millionen-Dollar-Mann.
Ganz sachlich erklärte er Miss Sadie, worauf sie achten sollte, wenn sie wieder nach Hause kam.
„Es könnte völlig normal aussehen, aber irgendetwas stimmt nicht ganz“, sagte er der alten Dame. „Vielleicht ein Zementmischer ein Stück die Straße hinunter, aber ohne Hinweise auf Bauarbeiten. Oder ein Typ vom Kabelfernsehen, der von einem Haus zum nächsten geht.“
Miss Sadie nickte nur, aber Sabrina beunruhigte das Ganze. Sie wollte glauben, dass Miss Sadie in Sicherheit sein würde. Jetzt warf sie sich vor, ihre Freundin in diesen ganzen Schlamassel mit hineingezogen zu haben.
Eric tankte den Studebaker auf und befüllte die Kühlbox neu. Er bot sogar an, dass einer seiner Freunde die alte Dame begleiten könne. Aber statt der Eskorte nahm Miss Sadie gern ein Handy und eine Nummer, die sie anrufen konnte, an.
„Wenn Sie irgendetwas brauchen, melden Sie sich einfach“, instruierte sie Eric. „Egal, was.“
Nach weiteren Erklärungen und einem traurigen Abschied machten sich Miss Sadie und Lizzie Borden auf den Weg. Kurz darauf griff sich Eric den Plastikbeutel mit der Abwasserprobe von EcoEnergy und sagte, er kenne jemanden, der es analysieren würde. Er nahm Sabrina das Versprechen ab, seine Wohnung auf gar keinen Fall zu verlassen oder auch nur an die Tür zu gehen, dann war er weg. Kurz darauf stieg dieses Gefühl in ihr auf, das schale, leere Gefühl, allein gelassen zu sein.
Mehr aus Unruhe als aus Neugierde lief sie durch die kleine Wohnung. Aber es entging ihr nicht, dass nur wenig darauf hinwies, wer hier wohnte. Keine Fotos, keine Post, keine Speisekarte vom Pizzaservice, wie sie Eric in Chicago geradezu gesammelt hatte. Ihre Mutter hatte ihn mehrmals damit aufgezogen, er habe mehr Nummern von Pizzadiensten in seinem Telefon eingespeichert als von Frauen. Eric hatte jedes Mal gekontert, das seien eben seine einzigen Laster – Pizza vom Zustellservice und Frauen –, und gleichzeitig bemerkt, dass er weder rauche noch Drogen nehme, kaum Alkohol trinke und fast nie fluche.
Sabrina warf einen Blick in ein paar Schubladen. Wo sie schon mal dabei war – es gab auch keine Anzeichen für Frauenbesuche, nicht einmal für One-Night-Stands. Andererseits hatte Sabrina ohnehin immer vermutet, dass ihr gut aussehender, charmanter Bruder mehr redete, als er tat.
Sabrina sagte sich, dass zwei Jahre reichten, damit sich ein Mensch veränderte. Aber der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie vermisste ihren Bruder, Schwächen und Macken hin oder her. Sie spähte in seinen Kleiderschrank und hoffte auf irgendetwas Vertrautes. Stattdessen fand sie Ralph-Lauren-Hemden und -Hosen sowie teure Seglerschuhe. Alles trug ein Designerlabel. Seit wann legte Eric denn auf so was Wert?
In der hintersten Schrankecke entdeckte sie schließlich ein Set Golfschläger und einen Tennisschläger. Vor der Wohnungstür hatte Sabrina eine Art kleines Surfbrett gesehen. Sport war immer Erics Hobby gewesen, also passten diese Sachen, auch wenn ihr sehr sozial eingestellter Bruder früher eher Mannschaftssportarten bevorzugt hatte wie Basketball im YMCA oder Baseball. Aber Golf war ja auch eine kommunikative Sache, sagte sie sich, als ihr an der Golftasche ein Namensschild auffiel, auf dem E. Gallo stand. Das Schild war groß genug, warum also sollte er seinen Namen abkürzen? Oder nannte er sich mittlerweile so? Und wenn ja, warum tat er das?
72. KAPITEL
Eric brachte den Plastikbeutel zur Wasseraufbereitungsanlage in Santa Rosa, wo eine Labortechnikerin arbeitete, die er nur unter dem Namen Bosco kannte. Vor ein paar Wochen erst hatte sie angeboten, mal was für Eric zu tun als Gegenleistung, wenn sie einmal
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