Orphan 2 Juwel meines Herzens
“
„Nein, besser im Empfangssalon. Im Arbeitszimmer sieht es aus wie Kraut und Rüben. “
„Das macht mir nichts aus“, versicherte Tony gut gelaunt. „Ich fühle mich inmitten der schönsten Unordnung ohnehin am wohlsten. “
„Im Salon, Tony“, erklärte Harrison fest. „Das wäre mir wirklich lieber. “
Tony schaute ihn beleidigt an. „Wie du willst, Harry, dann warte ich eben dort auf dich, aber beeil dich. Ich kann es kaum erwarten, in den Club zu kommen und das Neuste über den Schatten zu hören. Vielleicht weiß ja auch jemand, ob Lord Redmonds Mündel inzwischen wieder aufgetaucht ist. “
„Wer? “
„Das Mädchen, das vom Schatten entführt wurde“, erklärte Tony. „Sie ist eins der Waisenkinder, die der Marquess of Redmond bei seiner Heirat zu sich ins Haus nahm. Jetzt ist die Kleine natürlich erwachsen, aber verkrüppelt, weshalb Redmond auch keinen Gemahl für sie gefunden hat - obwohl ich ohnehin nicht wüsste, wer eine Frau mit so zweifelhafter Vergangenheit heiraten sollte. Offenbar hat sie sich letztes Jahr hier in London niedergelassen, um eine Besserungsanstalt für Huren und Straßenjungen zu gründen. “
Ein Bild tauchte aus den Schleiern von Harrisons vernebeltem Gedächtnis auf. Es war das Gesicht einer schönen Frau, die besorgt auf ihn hinunterblickte. Sie wirkte ängstlich und... nein, Harrison wusste ihren Ausdruck nicht zu deuten.
„Ist sie denn noch immer verschwunden? “ fragte er verwirrt.
„Jedenfalls war sie das, als diese Zeitung gedruckt wurde“, erwiderte Tony. „Bestimmt erfahren wir im Club, was aus ihr geworden ist - egal, ob sie nun tot oder lebendig sein mag. “
„Ich glaube nicht, dass sie tot ist. Der Schatten ist schließlich ein Juwelendieb und kein Mörder. “
„Das dürfte sich seit letzter Nacht geändert haben, als er Lord Haywood erschoss, fürchte ich. Jetzt stehen die Behörden erst recht unter Druck, den Kerl endlich dingfest zu machen. Sollte er nun auch noch Redmonds Mündel umgebracht haben, wird die Polizei ihre Anstrengungen gewiss noch verdoppeln, um ihn an den Galgen zu bringen. Glaub mir, die Tage des Schattens sind gezählt! Na ja, ich gehe jetzt jedenfalls hinunter, Harry“, schloss er und klemmte sich die Zeitung unter den Arm. „Lass mich nicht zu lange allein. “
Harrison wartete, bis die Tür sich hinter Tony geschlossen hatte. Dann presste er die Hände fest gegen die Schläfen.
Er durfte auf gar keinen Fall noch mehr Laudanum nehmen. Im Augenblick musste er seine fünf Sinne unbedingt beisammenhalten. Und er würde auch keinen Wein trinken zum Essen, damit ihm keine Silbe der Gespräche im Club über den Schatten entging. Schließlich wollte er sich nicht wie ein Lamm zur Schlachtbank führen lassen. Er musste herausfinden, was man schon über ihn wusste, und es sich dann auch noch merken können. Und das wird mir gelingen, versicherte er sich selbst entschlossen.
Dies war deutlich nicht der Zeitpunkt, trüben Gedanken an seinen verstorbenen Vater nachzuhängen. Stattdessen lenkte er all seine Aufmerksamkeit auf den pochenden Schmerz hinter den Schläfen, um ihn mit purer Willenskraft zu vertreiben.
„Du kriegst mich nicht klein“, schimpfte er böse. „Verschwinde gefälligst! “ „Hier. “ Völlig außer Atem türmte Annabelle drei weitere Pakete auf die anderen, die Oliver bereits in den zitternden Armen hielt. „Das sind sieben Paar Abendschuhe, vier Stolen und ein halbes Dutzend neuer Handschuhe. Jetzt brauchen wir noch Strümpfe und Unterkleider, dann können wir nach Hause fahren und Charlotte ein paar Kleider anprobieren lassen. “
„Bring doch die ganzen Sachen in die Kutsche, Oliver“, bat Grace, „und warte anschließend am Ende der Straße auf uns. So können wir noch in aller Ruhe an einigen Geschäften vorbeibummeln, ohne dass du dir dauernd den Kopf darüber zerbrechen musst, wo du am besten mit der Kutsche hältst. “
Oliver spähte über den Berg von Paketen hinüber zu Charlotte. „Geht es Ihnen gut genug, um noch ein Stück zu laufen, Mädchen? “ fragte er besorgt. „Oder wollen Sie lieber Ihren Schwestern die restlichen Besorgungen überlassen und mit mir zur Kutsche kommen? “
„Danke, Oliver, es geht mir gut. “
Tatsächlich fühlte sich ihr Bein ganz steif an und schmerzte, aber das wollte sie auf gar keinen Fall zugeben. Nicht vor Oliver und genauso wenig vor ihren Schwestern. Außerdem beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl, seit sie mit Annabelle und
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