Orphan 2 Juwel meines Herzens
dünner Sonnenstrahl hatte einen Weg durch die zugezogenen schweren Samtvorhänge gefunden und traf Brydens Gesicht. Fest schloss er die Lider und drehte sich zur Seite. Er wusste nicht genau, wie schlimm die Kopfschmerzen tatsächlich noch waren, dafür war sein Verstand noch zu umnebelt. Ganz langsam, befahl er sich und atmete tief durch. Er war einfach entsetzlich müde und konnte noch nicht klar denken, was aber erfahrungsgemäß am Laudanum lag. Nein, sie waren verschwunden, befand er nach einem Augenblick. Erleichtert drehte er sich wieder auf den Rücken.
Und fluchte laut - wegen des stechenden Schmerzes in seiner Schulter.
Trotz eines leichten Schwindelgefühls und anhaltender Verwirrung gelang es ihm, sich vom Schlafzimmerfußboden zu erheben. Beim Anblick des abgetragenen Mantels, den er trug, kehrten erste Erinnerungen an die letzte Nacht zurück. Er streifte das alte Ding ab und knöpfte das Hemd auf. Was waren das nur für blutdurchtränkte Verbände um seine Schulter? Doch ja, er erinnerte sich undeutlich an zwei ältere Frauen mit schottischem Akzent. Nur eine Fleischwunde, hatten die beiden gesagt. Angestrengt dachte er nach. Da waren doch noch mehr Leute gewesen. Ein paar wenig damenhafte Mädchen. Ein alter Mann. Und ein Junge.
Ja, und diese ausgesprochen hübsche junge Frau, die ihm bei den Chadwicks zu Hilfe geeilt war, nachdem sie ihn im Schlafzimmer überrascht hatte.
„Harry? Bist du schon wach? “
Eilig knöpfte Harrison das Hemd wieder zu und warf den Mantel über, um die Wunde zu verbergen. „Komm nur herein, Tony. “
Die Tür wurde geöffnet, und ein schlanker goldblonder Mann betrat das abgedunkelte Zimmer. Er schwenkte aufgeregt eine Zeitung.
„Hast du schon gehört? Der Schatten war wieder am Werk, und diesmal hat er Lord Haywood ermordet! “
„Bitte vielmals um Verzeihung, Euer Lordschaft“, er-klärte Harrisons Butler, der atemlos hereinstürzte. „Ich hatte Mr. Poole unmissverständlich mitgeteilt, dass Sie noch keinen Besuch empfangen, aber er bestand darauf, Sie auf der Stelle zu sehen, und eilte die Treppe hinauf, bevor ich ihn... “
„Schon gut, Telford“, brachte Harrison mühsam hervor, der kaum sprechen konnte. „Danke. “
„Na also! Sehen Sie, Telford? Ich habe Ihnen doch gesagt, Harry wird nicht böse sein. “ Tony betrachtete den unterlegenen Butler amüsiert. Dieser schenkte ihm einen missbilligenden Blick und entschwand den Flur hinab. „Hat den armen Kerl mitten in die Brust geschossen“, fuhr Tony dann wieder an Harrison gewandt aufgeregt fort. „Und dann auf den Stufen liegen lassen, bis er verblutet war. Himmel, Harry, du siehst ja wirklich schlimm aus! “ schloss er dann stirnrunzelnd. „Was hast du gestern Nacht nur angestellt? “
„Nichts Besonderes. “ Harrison ging zum Waschtisch und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht.
„Warst du aus? “
„Nur kurz im Club. Dort habe ich etwas getrunken. “ „Na, das dürfte wohl mehr als ein Glas gewesen sein, wenn ich mir dich heute Morgen so anschaue“, befand Tony trocken.
Harrison zuckte die Schultern und biss die Zähne zusammen, weil er dafür mit einem brennenden Schmerz belohnt wurde. „Was führt dich eigentlich her? “ fragte er dann, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
„Hast du es etwa vergessen? Wir sind zum Lunch verabredet. Du wolltest, dass ich dich um elf Uhr abhole. “ Neugierig musterte er den Freund. „Das wirst du doch wohl noch wissen? “
Harrison verzog keine Miene. Tatsächlich besaß er nicht die geringste Erinnerung an diese Verabredung. Jetzt ist es also schon wieder passiert, dachte er und wehrte sich gegen die aufsteigende Übelkeit. So begann es. Man konnte sich an diese oder jene Kleinigkeit nicht mehr erinnern - wie eine Verabredung zum Lunch oder wohin man das Buch gelegt hatte, in dem man gerade las. Einzeln betrachtet, schien keine dieser kleinen Vergesslichkeiten auch nur im Mindesten bedeutsam, außer dass man vielleicht ein wenig zerstreut war. Ja, man konnte sogar den häufigen Kopfschmerzen die Schuld daran geben. Doch im Ganzen genommen, ergab sich ein völlig anderes Bild.
Ein dunkles Pochen am Hinterkopf warnte ihn davor, dass die schrecklichen Schmerzen nicht vollständig verflogen waren und jederzeit zurückkehren konnten.
„Aber natürlich entsinne ich mich“, log er.
„Na also. “ Tony lächelte. „Dann lass ich dich jetzt allein, damit du dich umziehen kannst. Ich erwarte dich unten im Arbeitszimmer.
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