Orphan 2 Juwel meines Herzens
Grace aus der Kutsche gestiegen war - als ob jemand ihnen folgte. Am Anfang hatte sie den Gedanken als lächerlich abgetan. Wer sollte denn etwas davon haben, sich an ihre Fersen zu heften? Dennoch konnte sie diese sonderbare Ahnung nicht abschütteln. Als ehemaliges Kind der Straße hatte sie schon früh im Leben ein Gespür für solche Dinge entwickelt. Natürlich erregte sie heute besonders viel Aufmerksamkeit. Kaum erkannte sie jemand auf der Straße oder einer der Ladenbesitzer, erklärte man ihr, wie froh man sei, sie gesund und lebendig anzutreffen. Doch es waren nicht diese neugierigen Blicke, die Charlotte so unruhig werden ließen. Nein, sie wusste genau, dass jemand sie just in diesem Augenblick beobachtete.
Es musste der Schatten sein, davon war sie überzeugt. Wer auch sonst?
„Geh nur schon vor, Oliver“, wies sie den Alten lächelnd an. „Wir kommen dann gleich. “
Zweifelnd erwiderte er ihr Lächeln. Er wusste seit Jahren, was es bedeutete, Schmerzen klaglos zu ertragen, und erkannte die Anzeichen daher auch bei anderen Menschen. „Ja wirklich? “
„Sobald ich nur im Mindesten müde werde, mache ich mich sofort auf den Weg zur Kutsche“, versprach Charlotte feierlich.
„Es dauert nicht mehr lange, Oliver“, fügte Annabelle hinzu. „Nur noch ein paar Geschäfte. “
Er schnaubte ungeduldig. „Das haben Sie schon vor einer Stunde gesagt. “
„Aber diesmal ist es uns wirklich ernst“, versicherte Grace. „Wir passen auf, dass Charlotte sich nicht zu viel zumutet. Bestimmt! “
„Das will ich auch meinen. Die Kleine ist nicht dran gewöhnt, auf der Jagd nach einem Paar Schuhe den halben Tag durch ganz London zu wandern. “ Damit drehte er sich um und marschierte davon.
„Dir geht es doch wirklich gut genug, um noch ein bisschen weiterzubummeln, Charlotte? “ Annabelle wurde plötzlich klar, dass sie nicht sonderlich einfühlsam mit der Schwester umging. „Grace und ich können sonst auch allein die letzten Sachen für dich besorgen. “
„Tatsächlich würde ich gern eine kurze Pause einlegen“, gab Charlotte zu. „Am besten gehst du schon einmal mit Grace ins Geschäft. Ich bleibe hier draußen und sehe mir die Auslagen im Schaufenster an, bis ihr beide fertig seid. Ich brauche ein wenig frische Luft. “
„Ich leiste dir Gesellschaft“, erbot sich Grace. Ihr missfiel die Vorstellung, die Schwester hier draußen allein zu lassen.
„Nein, das ist ganz unnötig“, widersprach Charlotte eilig. „Ihr werdet ja nicht lange brauchen, und Annabelle legt Wert auf deine Meinung. Es geht bestimmt alles schneller, wenn du sie begleitest. Andernfalls kauft sie noch den Laden leer. “
„Ha, so schlimm bin ich doch gar nicht“, protestierte An-nabelle lachend.
„O doch, du brauchst jemanden, der auf dich aufpasst“, neckte Grace. „Also gut, Charlotte, wir sind gleich wieder bei dir. “
„Lasst euch ruhig Zeit. “ Charlotte lächelte den beiden zu. „Mir passiert schon nichts. “
Sie wartete kurz, bis die zwei im Laden verschwunden waren, dann schaute sie sich suchend um, ob sie irgendwo die hoch gewachsene, breitschultrige Gestalt des Schatten entdeckte. Doch unter den zahlreichen Leuten, die den schmalen Bürgersteig bevölkerten, erinnerte niemand sie an den berüchtigten Dieb, der sie gestern Nacht noch so fest in den starken Armen gehalten hatte. Sie humpelte ein wenig die Straße hinunter und erntete die üblichen überraschten und mitleidigen Blicke. Tu, als würdest du gar nichts merken. Sie versuchte, die Demütigung zu verdrängen, und ging tapfer weiter. Nach einem kurzen Stück Wegs bereits wollte ihr Bein sie kaum noch tragen. Traurig und entmutigt machte sie kehrt.
Da bemerkte sie, wie ein großer, kräftiger Mann schleunigst in eine finstere Nebenstraße einbog, die von der teuren Einkaufsgegend wegführte.
Mit heftig klopfendem Herzen ging sie auf die Gasse zu. Warte auf mich, flehte sie im Stillen aufgeregt. Mit einiger Mühe drängte sie sich durch die Menschenmenge auf dem Bürgersteig.
Und sie hatte schon geglaubt, der Schatten wäre für immer aus ihrem Leben verschwunden - offensichtlich ein Irrtum. Natürlich wäre es ihm ein Leichtes gewesen, heute Morgen vor ihrem Haus zu warten, bis sie hinauskam. Aber sie konnte verstehen, dass er sich davor scheute, sie anzusprechen, weil sie in Begleitung ihrer Schwestern gewesen war. Deshalb folgte er ihr jetzt verstohlen. Er hoffte auf einen Augenblick, in dem er sie allein antreffen würde,
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