Orphan 2 Juwel meines Herzens
damit er ihr für die Hilfe gestern danken konnte.
Obwohl sie sich unbändig freute, ihn wiederzusehen, wünschte sie keinen weiteren Dank. Wenn er sie ansprach, würde sie ihm versichern, ihm gern beigestanden zu haben, als er so verzweifelt jemanden gebraucht hatte. Und in den wenigen Minuten, die ihnen dann noch blieben, musste sie auf ihn einwirken, damit er das Verbrechen ein für alle Mal aufgab. Stattdessen sollte er etwas Sinnvolles anfangen mit seinen Fähigkeiten. Zweifellos besaß er zahlreiche Gaben und Talente, die ihn dazu bestens befähigten. Bald schon würde er dann sein Leben als rechtschaffener Bürger genießen und nicht mehr ständig fürchten, im Gefängnis zu landen - oder gar Schlimmeres.
Es war dunkel in der schmalen Gasse und stank nach verrottendem Abfall. Sie bemühte sich, so wenig wie möglich zu atmen, während sie die schmutzige Straße entlanghumpelte. Der Schatten war hinter ein paar klapprigen Kisten verschwunden, die am Rand der Gasse standen.
„Sie brauchen keine Angst zu haben! “ rief Charlotte sanft. „Ich bin es doch nur. “
Keine Antwort.
„Niemand weiß, dass Sie mir folgen“, fügte sie hinzu, um ihn zu beruhigen. „Ich bin Ihnen heimlich nachgeschlichen. Wenn meine Schwestern nach mir suchen sollten, werden Sie es zuerst in den Läden tun. Hier werden Sie mich im Leben nicht vermuten. “
Noch immer Schweigen.
Sie biss sich auf die Lippen. Weshalb sprach er nicht mit ihr? „Geht es Ihnen auch gut? “
Jetzt trat er halb aus dem Schatten und nickte. Die billige Schirmmütze hatte er tief in die Stirn gezogen, so dass seine Züge nicht zu erkennen waren. Seine ganze Haltung verriet, dass er misstrauisch blieb. Ganz offensichtlich zweifelte er, ob er ihr wirklich ganz vertrauen durfte.
„Ich freue mich, dass Sie sich heute so viel besser fühlen“, versicherte sie eilig. „Gestern Nacht war ich doch in großer Sorge um Sie. Als man mir sagte, Sie seien fort, fürchtete ich schon, Sie besäßen nicht mehr genügend Kraft, um es bis nach Hause zu schaffen. “ Vorsichtig machte sie ein paar kleine Schritte auf ihn zu. Ob er ihr wohl erlauben würde, sein Gesicht zu sehen?
„Sie bringen sich in Gefahr, wenn Sie mir weiter folgen“, fuhr sie fort. „Gestern war ein Inspector bei mir. Er hat nach Ihnen gesucht. Ich fürchte, er hat mir meine Ge schichte nicht ganz abgenommen. Deshalb dürfen wir einander von nun an auch nicht wieder treffen. Haben Sie mich verstanden? “
Sie stand jetzt ganz dicht bei ihm und wartete, dass er sie auffordern würde, noch näher zu kommen. Doch er sprach auch weiterhin kein Wort.
„Wollten Sie mir noch etwas sagen? “ fragte sie lockend wie eine Taube.
Nichts.
„Soll ich wieder gehen? “
Er schüttelte den Kopf.
„Darf ich näher treten? “
Zögern, dann ein Nicken.
Das Herz klopfte ihr vor Aufregung bis zum Hals, wenn sie auch ein wenig Angst bekam. Sie machte einen Schritt nach vorn, dann noch einen, so dass sie den Schatten mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können.
Zwar hielt er den Kopf gesenkt, und es war ziemlich dunkel in der Gasse, dennoch erkannte sie grauen Flaum auf seiner vernarbten Wange. Überrascht schaute sie noch einmal genauer hin. Sie hatte nicht gedacht, dass der Schatten schon so alt war. Und sein Mund, der gestern noch so voll und sinnlich auf sie gewirkt hatte: hart, mit dünnen Lippen, die zu einem schiefen Grinsen verzogen schienen. Endlich erkannte sie auch die breite weiße Narbe, die sich vom Mundwinkel übers Kinn zog.
Vor Grauen wie versteinert stand sie da, unfähig, auch nur eine einzige Silbe hervorzubringen.
„Hallo, Lottie“, hörte sie dann seine leise amüsierte Stimme. „Hast wohl nicht damit gerechnet, mich hier zu treffen, was? “
Archie trat nun ganz aus dem Schatten und hob den Kopf, damit sie sein Gesicht sehen konnte. „Was denn? “ fragte er scheinbar bestürzt, während er sich an ihrem Entsetzen weidete. „Ja, ja, dein alter Herr ist von den Toten auferstanden. “
Nein, dachte Charlotte, der ganz übel wurde. Nein, er kann unmöglich hier sein, Nein, nein, nein.
„Du scheinst ja nicht besonders erfreut, mich zu tref fen“, meinte er stirnrunzelnd. „Komm her und gib mir einen Kuss! Oder bist du dir für einen Kerl wie mich jetzt zu fein? “ Er lachte hässlich.
„Was willst du? “ flüsterte sie. Ich bin kein kleines Mädchen mehr, ermahnte sie sich in Gedanken verzweifelt; er besitzt keine Macht über mich.
Verzweifelt
Weitere Kostenlose Bücher