Orphan 2 Juwel meines Herzens
passte. Jeder von ihnen kannte sich im stinkenden Labyrinth der schäbigen Mietshäuser der Stadt zehn Mal besser aus als jeder Konstabler. Die Polizei würde ihren Vater niemals finden. Dafür aber er Charlotte.
Und wenn er sie erst einmal aufgespürt hatte, bekam sie die Strafe dafür zu spüren, dass sie sich ihm widersetzte. „Die Polizei ist machtlos“, wiederholte sie tonlos.
Böse presste Harrison die Lippen aufeinander. Der Kopfschmerz wurde immer schlimmer. Nicht mehr lange, und er musste wieder Laudanum nehmen. Doch er versuchte, den Schmerz zu verdrängen, ging hinüber zum Schreibtisch und entnahm dem Sicherheitsfach einer der Schubladen einen Umschlag.
„Hier sind achthundert Pfund“, sagte er und reichte ihr das Couvert. „Das sind die gesamten Barmittel, die ich derzeit zur sofortigen Verfügung habe. Ich kann Ihnen mehr besorgen, aber das wird bedauerlicherweise ein paar Tage dauern. In der Zwischenzeit reicht das hoffentlich, um Sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. “
Restlos überrascht blickte Charlotte auf den Umschlag und ergriff ihn dann. „Ich danke Ihnen. “
Er nickte. Wie wunderschön sie doch in diesem Augenblick wirkte - eine bezaubernde Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit. Am liebsten hätte er sie sanft in den Arm genommen und gestreichelt, ihren Körper dicht an seinem gespürt, ihre Wärme... Gern würde er alles tun, damit sie nicht allein jenen dunklen Mächten gegenübertreten musste, die ihr solche Angst machten. Aber er wusste, dass seine Unterstützung ihr nicht willkommen war. Nach seinen letzten beiden katastrophalen Einbrüchen durfte er sich über mangelndes Vertrauen wohl nicht wundern - da ging es ihm selbst ja nicht anders. Er presste die Finger gegen die Schläfen, um den Schmerz aufzuhalten. Alles wirkte so verschwommen - eine sichere Warnung, sich besser bald auf sein Zimmer zu begeben.
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie nicht mehr hinausbringe“, erklärte er mühsam und zog am Samtband der Klingel. „Telford wird Sie zurück zur Kutsche begleiten. “
Besorgt betrachtete sie ihn. „Geht es Ihnen auch gut? “
„Ausgezeichnet. “ Er stützte sich auf die Schreibtischplatte und tat, als studierte er ein Dokument. Tatsächlich konnte er nicht einmal mehr die tanzenden Buchstaben richtig erkennen. Ihm wurde schlecht.
„Sir? “ Telford stand im Türrahmen.
„Führen Sie Miss Kent bitte zu ihrer Kutsche. “ Es gelang ihm einigermaßen, mit fester Stimme zu sprechen.
„Sicher, Sir. “ Der Butler nickte Charlotte zu. „Miss Kent? “
„Gute Nacht, Lord Bryden“, sagte sie.
Doch Harrison schaute nicht mehr auf, als Telford sie aus dem Zimmer führte.
Erst als die beiden ihn allein gelassen hatten, entnahm er dem Schreibtisch eine Flasche Laudanum und schüttete ein wenig davon in seinen Drink. Dann spülte er das Gemisch auf einmal hinunter, schloss die Augen und sank über dem Tisch zusammen.
Heute Nacht konnte er niemandem mehr helfen.
8. KAPITEL
Archie Buchan trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und stieß gotteslästerliche Flüche aus, von denen sich einige gegen die Apostel richteten, soweit er sich denn ihrer Namen erinnern konnte.
Er hasste es, warten zu müssen.
Im Gefängnis hatte das ganze Leben aus nichts anderem bestanden, wie er sich verbittert erinnerte. Nachts hatte er den Morgen herbeigesehnt, damit er sich endlich von der verlausten Matratze erheben konnte und nicht länger dem Schnarchen und Stöhnen der anderen Gefangenen lauschen musste, die mit ihm im Loch saßen. Er hatte sich nichts dringender gewünscht als den Becher eiskalten Wassers, die dünne Suppe, den grässlichen Haferschleim und die Sauermilch, die es zum Frühstück gab.
Wenn er überleben wollte, musste er essen. Das wusste er genau. Danach ging es dann an die Arbeit: Zehn Stunden dauerte eine Schicht, in der er Netze knüpfte. Und gnade Gott, er machte eine Pause. Dann setzte es Hiebe, und er wurde an die Kurbelmaschine geschickt zur Strafe! Bei der Arbeit wartete er darauf, dass es endlich wieder Abend wurde, weil sein ganzer Körper schmerzte, die Finger bluteten und er Blasen und Schwielen an den Händen hatte. Den furchtbaren Gestank und Lärm um sich herum nahm er abends schon gar nicht mehr wahr. Dazu war er viel zu erschöpft.
Geduld bedeutete Überleben.
Einige der Häftlinge damals begriffen das nicht. Sie taten nichts dagegen, dass ihre Körper und der Verstand immer schwächer wurden. Der Zorn dieser Männer brannte
nicht
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