Orphan 2 Juwel meines Herzens
einigermaßen sicher. Dann konnte sie tun, was sie wollte, solange sie dabei nur leise vorging. Am Tage schlich sie sich hinaus aus dem schäbigen gemieteten Zimmer, wanderte durch die Straßen und versuchte, etwas Geeignetes zu stehlen. Er behandelte sie besser, wenn sie ihm etwas mit nach Hause brachte. Doch es war ihm natürlich nie genug. War es ein hübsches Taschentuch, beschwerte er sich, dass es nur aus Baumwolle gefertigt war statt aus reiner Seide. Brachte sie Äpfel oder Brot heim, schimpfte er, weil es kein Rumkuchen oder eine Fleischpastete war. Wenn sie den Mut fand, eine Börse oder Uhr zu stehlen, machte er der Tochter Vorwürfe, weil nicht genug Geld darin war oder die Uhr nicht aus purem Gold. Dann beschimpfte er Charlotte als nichtsnutzige kleine Schlampe, die besser nie geboren worden wäre. Sie hörte ihm schuldbewusst mit tief gesenktem Kopf zu und schwor sich im Stillen, es in Zukunft bestimmt besser zu machen. Zur Belohnung schlug er sie am Ende: ins Gesicht, auf die Arme, den Rücken, immer und immer wieder, bis sie zusammenbrach.
Nie war er mit ihr zufrieden.
Jetzt hörte sie, wie er auf sie zuwankte, und glaubte, ihr müsse das Herz in der Brust stehen bleiben. Also war er heute nicht betrunken genug. Ängstlich presste sie die Li de r zusammen und stellte sich schlafend. Wenn er mich doch nur in Ruhe lässt, hoffte sie verzweifelt. Doch stattdessen kam er näher. Das Blut schien ihr schneller durch die Adern zu rauschen. Wie widerlich er stank, nach Gin, Schweiß und Schmutz! Sie selbst roch nicht viel besser, das wusste sie. Aber wenigstens versuchte sie, sich jeden Tag zu waschen - in einer Schüssel mit kaltem Wasser und mit dem kostbaren kleinen Stück Seife, das sie gestohlen hatte. Sie klammerte sich an der Decke fest, als wäre sie ein Schild und kein dünnes Stück Stoff, das sie nicht einmal vor der Kälte zu schützen vermochte. Bitte, flehte sie in Gedanken, er soll mir nicht wehtun. Sie wusste kaum zu sagen, wem dieses Stoßgebet eigentlich galt.
Er blieb hinter ihr stehen.
„Los“, verlangte er lallend. „Rück’s raus. “
Sie sprang auf und huschte zur Seite, gerade aus seiner Reichweite, um möglichen Schlägen zu entgehen.
„Hier. “ Sie zog eine dünne Kette aus dem Ärmel. „Und das noch “, fügte sie hinzu und holte aus der Tasche in ihrem Rock eine abgenutzte kleine Schnupftabaksdose.
Er riss die beiden Gegenstände an sich und wog sie in den schmutzigen Händen. Betrunken, wie er war, hatte er Mühe, in dem schwachen Licht den Wert des Diebesguts zu bestimmen. Endlich biss er probeweise in das Metall der Kette. Verächtlich schnaubte er dann und steckte sie in die Tasche. Anschließend wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Tabaksdose zu. Charlotte wusste, dass sie nicht viel einbringen würde. Die Dose war lediglich versilbert, ohne jeden Stein oder kunstvolle Gravur, die einen höheren Preis gerechtfertigt hätten. Dennoch war sie hübsch genug anzusehen und tat tadellos ihren Dienst, so dass der Vater sie irgendwo verkaufen konnte. Wenn er sich doch nur damit zufrieden gab!
„Ist das etwa alles? “ fragte er wütend und schaute sie aus glasigen Augen finster an.
Sie nickte.
„Du nutzloses Stück! “ schrie er. „Den lieben langen Tag hast du nichts anderes zu tun als ein bisschen Stehlen, damit wir was zu essen haben, und mehr bringst du nicht an? “
Beschämt senkte sie den Blick und betrachtete ihre Zehenspitzen.
Hart schluq er ihr ins Gesicht, dass sie rückwärts taumelte.
»Bist genau wie deine verfluchte Mutter“, knurrte er bösartig. „Zu nichts zu gebrauchen. Wenigstens konnte die anschaffen gehen und hat so ihren Anteil verdient. Und genau das wirst du auch tun. Aber du bist ja zu dünn und hässlich, als dass irgendein Mann was mit dir zu tun haben wollte. Ich sollte dich einfach rauswerfen, hast du gehört? “
Charlotte biss sich auf die Lippe und versuchte die Tränen zu unterdrücken, obwohl die ersten ihr bereits über die Wangen liefen. Wenn er bemerkte, dass sie weinte, würde alles nur noch schlimmer werden. Ihr Vater hasste das einfach.
„Wir werden dich ein bisschen mästen müssen, und dann schick ich dich raus auf die Straße“, entschied er. „Du bist nicht gerade eine Schönheit, weiß der Himmel. Aber es gibt genug Kerle, die junges Gemüse wollen, das noch wenig gebraucht ist. Denen ist egal, wie du sonst aussiehst, solange du nur brav die Beine breit machst und sie ranlässt. “
Sie hatte sich so
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