Orphan 2 Juwel meines Herzens
geballt. Wie war sie nur darauf verfallen, ausgerechnet bei ihm Hilfe zu suchen? Ein schlimmer Fehler. Das begriff sie jetzt. Weshalb hatte sie nur angenommen, dass er ihr gern und bereitwillig helfen würde?
„Vergeben Sie mir. “ Damit wollte sie zur Tür humpeln.
Doch Harrison stellte sich ihr in den Weg. Dann umfasste er zärtlich ihr Kinn, hob es an und begutachtete den Bluterguss, der ihr halbes Gesicht überzog.
„Verraten Sie mir, wer das war“, sagte er dann sanft und mit tiefer Stimme.
Sein Blick war streng, aber die Berührung dennoch unendlich zart. Unsicher und verwirrt sah sie ihn an. Seltsamerweise gab ihr sein lodernder Zorn neue Kraft. Fast fühlte sie sich, als hielte er ein schützendes Schild vor sie - obwohl er doch lediglich ihr Kinn umfasste. Sie brauchte ihn in diesem Augenblick so unendlich. Ihn und seine Stärke, um die Gefahren zu überstehen, die nicht nur ihr plötzlich drohten. Nein, auch Flynn und allen anderen Menschen, die Charlotte liebte.
„Bitte“, flüsterte sie. „Sie müssen mir helfen. “ Man konnte die Worte kaum hören.
Statt zu antworten, führte er sie hinüber zum Sofa und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Dann wandte er sich ab und goss ihr einen Drink ein. Ohne ihn wirklich zu erkennen, betrachtete sie den blauen Bezug des Möbels, der an manchen Stellen ganz zerschlissen war und aufzureißen drohte. Halt suchend umklammerte sie die Lehne.
„Hier“, sagte er und reichte ihr ein Glas Wein. Dann zog er den Gürtel des Morgenrocks fester. Er war aus dünner saphirfarbener Seide gefertigt und gewährte einen großzügigen Ausblick auf Harrisons nackte Waden und Brust. So weit entfernt von Charlotte wie nur möglich nahm er ebenfalls auf dem Sofa Platz. Natürlich verstieß es aufs Skandalöseste gegen jede gesellschaftliche Spielregel, hier im Salon nahezu unbekleidet mit einer jungen unverheirateten Dame zu sitzen - wie ihm sehr wohl bewusst war. Leider konnte er daran derzeit nichts ändern. Charlotte war viel zu aufgewühlt, als dass er sie hier lange hätte warten lassen wollen, bis er sich angemessen gekleidet hatte. Und was immer es auch sein mochte, das sie ihm anzuvertrauen gedachte, sie würde es nie erzählen, wenn noch jemand anderes als Anstandswauwau anwesend war. Außerdem durfte man ihre gesamte Bekanntschaft bisher als ausgesprochen... ungewöhnlich bezeichnen. Da sie also bisher ohne gesellschaftliche Gepflogenheiten ausgekommen waren, durften sie beide jetzt wohl auch getrost in diesem Sinne fortfahren.
„Bitte, Charlotte, Sie müssen mir jetzt die ganze Wahrheit sagen. Beginnen wir damit, wer Sie geschlagen hat. “ Sie setzte das Glas auf einem kleinen Beistelltischchen ab und senkte den Kopf. Was würde Lord Bryden nur von ihr denken, wenn er alles erfuhr?
Nein, sie durfte sich jetzt nicht wieder in sich zurückziehen, nachdem sie ihm gegenüber nun einmal genug Vertrauen bewiesen hatte, indem sie seine Hilfe gesucht hatte. Er nahm ihre Hand und setzte sich dicht neben Charlotte. Zum Teufel mit dem Anstand, dachte er. „Bitte, sagen Sie mir alles“, drängte er sie freundlich. „Gestatten Sie mir, Ihnen zu helfen. “
Sie betrachtete seine auffallend große Hand, in der er ihre Finger hielt. Wie wunderbar sich das anfühlte! Kein Mann zuvor hatte sie jemals auf diese zarte Art berührt. Oliver tätschelte Charlotte manchmal den Handrücken, um sie zu trösten, wenn sie sich Sorgen machte oder unglücklich war. Und die Brüder drückten sie von Zeit zu Zeit in geschwisterliche Liebe, wenn sie ihr in oder aus der Kutsche halfen zum Beispiel. Diese Zärtlichkeiten sprachen stets davon, wie sehr die drei sich um sie sorgten und sie zu beschützen versuchten. Sie halfen ihr auch, für einen Augenblick zu vergessen, dass sie für den Rest der Welt ein humpelnder Krüppel war. Aber das alles war hiermit nicht zu vergleichen! Harrisons Handfläche schien fast auf ihrer Haut zu brennen, und diese Hitze durchströmte rasch Charlottes ganzen Körper. Eigentlich war es ja wirklich lächerlich, dass eine unerfahrene und noch dazu verkrüppelte alte Jungfer wie sie sich zu derartigen Empfindungen hinreißen ließ, nur weil ein Mann sie so unschuldig berührte. Dennoch entzog sie ihm die Finger nicht, sondern umfasste fest seine Hand.
„Er hat Flynn“, begann sie dann zögerlich ihre Geschichte.
„Wer? “
Sie biss sich auf die Lippe. Würde Bryden sie verurteilen, wenn er erst einmal alles wusste? Der Mann, der sie gezeugt und dann zehn
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