Orphan 2 Juwel meines Herzens
zog in den Norden nach Inverness auf Haydons Landsitz. Er und Genevieve waren einfach wunderbare Eltern, die uns stets vor allem Bösen zu beschützen trachteten. Nach einigen Jahren fühlte ich mich wirklich sicher. Mein altes Leben kam mir widerwärtig und sonderbar vor. Von da an habe ich meinen Vater dann wohl einfach aus dem Gedächtnis gestrichen. “
„Leider ging es ihm da offensichtlich mit Ihnen anders. “
„Im Gefängnis hat man viel Zeit zum Nachdenken“, erklärte sie leise, den Blick noch immer gesenkt. „Besonders nachts. “
Die Vorstellung, dass man Charlotte als kleines Kind ins Gefängnis geworfen hatte, fand Harrison schwer zu ertragen. Er mochte sich kaum ausmalen, wie entsetzlich das für sie gewesen musste - und wie unglaublich erleichtert sie bestimmt gewesen war, als Lady Redmond sie dort herausholte und ihr ein Heim gab. Eigentlich hätte man erwarten dürfen, dass Charlotte mit ihrem furchtbaren alten Leben nie wieder etwas zu tun haben wollte. Stattdessen tat sie heute alles, um jenen zu helfen, die in der gleichen finsteren Welt gefangen waren wie sie einst selbst.
Erst jetzt verstand er vollends, was ihre Arbeit und das Haus ihr bedeuteten. Natürlich hatte er Charlottes edle Selbstaufopferung auch schon vorher aufrichtig bewundert. Derartige Mildtätigkeit gegenüber den Armen konnte man ja nur gutheißen. Doch in Londons vielen Slums regierten Gewalt und Verzweiflung. Selbstverständlich konnte sie mit dem bescheidenen kleinen Heim und ihrer eigenartigen Dienerschaft nicht die Schlacht gegen Zustände gewinnen, die das Land seit hundert Jahren heimsuchten. Aber gerade deshalb war es ein umso bemerkenswerterer Erfolg, wenn es ihr gelang, auch nur ein oder zwei, hilfsbedürftige Frauen oder Kinder zu retten. Das wurde ihm nun bewusst.
Ein Blick auf sie selbst genügte, um dies mehr als begreiflich zu machen.
„Wie mein Vater mir vor einigen Tagen sagte, dachte er eigentlich, ich wäre so schwach und hilflos gewesen, dass er vermutet hat, ich wäre im Gefängnis gestorben. Es ist kaum anzunehmen, dass er sich um mein Wohlergehen großartig den Kopf zerbrochen hat. “
„Wodurch hat er sie dann doch aufgespürt? “
„Er kam vor einigen Monaten nach London. In St. Giles hörte er von einer jungen Frau, die versuchte, Huren und Dieben zu helfen. Wissen Sie, weil ich mit meinen Schützlingen in einem Haus lebe, findet man mich dort ausgesprochen ungewöhnlich. Als er dabei erfuhr, dass ich aus Schottland stamme, Charlotte heiße und humple, wollte er sich davon überzeugen, ob ich nicht vielleicht seine Tochter bin. “ Gequält fuhr sie leise fort: „Ich habe mich äußerlich nicht sehr verändert seit damals, fürchte ich - abgesehen von den teueren Kleidern und einem gewaschenen Gesicht. “
Erstaunt blickte er sie an. Teufel, offenbar hatte die junge Frau, die da neben ihm auf dem Sofa saß, keine Ahnung, wie entzückend sie aussah. Wenn er nur an das schlichte Abendkleid dachte, das sie beim Ball der Marstons getragen hatte. Dazu die hochgesteckten Haare, keinerlei Schmuck... Er hatte natürlich geahnt, dass sie sich deshalb nicht modisch herausputzte, weil sie größere Aufmerksamkeit zu vermeiden versuchte. Das betonte allerdings ihre zarte natürliche Schönheit nur noch mehr und machte sie in seinen Augen weit attraktiver als die meisten anderen Damen der feinen Gesellschaft. Die zeigten sich nur in teuersten Stoffen und mit kunstvoll arrangierter Frisur in der Öffentlichkeit - und schienen noch dazu stets in irgendeinem schweren Parfüm gebadet zu haben. Von denen traf er genügend bei jeder Soiree und jedem Ball, an dem er teilnahm.
. »Ja, da durfte Ihr Herr Papa dann feststellen, dass Sie heutzutage eine begüterte Frau sind, und beschloss zweifel los augenblicklich, wieder Vaterstelle an Ihnen vertreten zu wollen“, mutmaßte er.
Sie nickte. „Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich nicht so viel Geld besitze, doch er glaubte mir nicht. Stattdessen drohte er mir damit, jemandem aus meiner Familie etwas anzutun, falls ich ihn nicht auszahlte. Heute Abend gab ich ihm Ihre achthundert Pfund und hoffte heimlich, er möge sich damit zufrieden geben. Aber er wurde furchtbar wütend und eröffnete mir, dass er Flynn in seiner Gewalt hält. Falls ich meinem Vater den Rest des Geldes nicht innerhalb einer Woche besorge, will er dem Jungen jeden Knochen brechen. “
Schweigend hatte er ihr gelauscht. „Und würde er so etwas wirklich tun? “ fragte er
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