Orphan 2 Juwel meines Herzens
lächerlich!
Natürlich nichts Dergleichen.
„Himmel, Telford“, entfuhr es Harrison endlich, und er ließ den armen Mann abrupt los. „Was ist denn nur los, bei allen guten Geistern? “
„Verzeihen Sie mir, Euer Lordschaft“, krächzte Telford. Damit kletterte er vom Bett, bemühte sich vergeblich wieder um eine würdevolle Haltung und strich den Morgen-Hantel glatt. „Ich wollte Sie wirklich nicht erschrecken, tatsächlich versuchte ich lediglich, Sie zu wecken. Auf mein wiederholtes Klopfen gaben Sie keine Antwort. Also kam ich herein zu Ihnen ins Schlafgemach. Als Sie mich noch immer nicht hörten, machte ich mir Sorgen und schützte Sie, Sir. “
Harrison fuhr sich verwirrt durch die Locken und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Fast hätte er seinen eige-nen Butler ermordet! Es hätte kaum noch lange gedauert, und er hätte ihn entweder erstickt oder aber ihm das Genick gebrochen. Eilig stand er auf, ging hinüber zu einem kleinen Tisch in einer Ecke des Zimmers und goss sich ein Glas Whisky ein. Es war eigentlich unverantwortlich, Alkohol zu trinken, nachdem er am Abend Laudanum genommen hatte. Das war ihm derzeit allerdings vollkommen egal. Er nahm einen kräftigen Schluck und dann noch einen. Selbstverständlich war das alles nur ein dummer Zufall. Es hätte wirklich jedem passieren können, der mitten in der Nacht erwachte, während ein Kerl sich über ihn beugte. Außerdem war er selbst ja augenblicklich zur Besinnung gekommen, als er begriffen hatte, dass der Kerl kein anderer als Telford war. Also befand er sich wohl noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte und litt nicht an Verfolgungswahn. In einem Zug trank er das Glas aus. Er hatte sich doch nicht in seinen Vater verwandelt.
Bis jetzt zumindest nicht.
„Wie spät ist es, Telford? “ Er konnte wegen der Kopfschmerzen noch nicht wieder richtig sehen, daher fiel es ihm schwer, die Uhr auf dem Kaminsims zu erkennen.
„Zwanzig Minuten nach drei, Sir“, antwortete der Butler. „Morgens. “
Nun, das erklärte zumindest, weshalb Telford im Morgenmantel vor ihm stand. Harrison schaute an sich herab und stellte fest, dass er selbst vollkommen nackt war. „Und aus welchem Grund haben Sie mich geweckt? “ verlangte er zu erfahren und griff seinerseits zum Morgenrock, der über einem Stuhl hing. Plötzlich kam ihm ein schrecklicher Gedanke. „Ist meiner Mutter etwas passiert? “
„Mylady geht es gut, Sir“, versicherte Telford eilig. „Sie schläft. Ich musste Sie stören, weil Miss Kent unten im Salon wartet und Sie sprechen möchte. “
„Um diese Zeit? “ Harrison runzelte die Stirn.
„Ja, Sir. Ich habe ihr erklärt, dass Sie sich zur Nachtruhe zurückgezogen haben und gewöhnlich zu dieser Stunde keine Gäste zu empfangen pflegen. Aber sie versicherte mir, dass Sie für sie eine Ausnahme machen würden. “ Er zögerte, bis er schüchtern hinzufügte: „Sie wirkt ausgesprochen verzweifelt, Sir. “
Das genügte. Hastig verknotete Harrison den Gürtel des Morgenmantels und eilte voller Sorge an Telford vorbei.
Charlotte stand in der Mitte des Empfangssalons, als er eintrat. Sie war leichenblass, und das wunderbare rostrote Haar fiel ihr offen und ein wenig zerzaust über die Schultern. Das einfache graue Kleid war ganz zerknittert, ja fast schien es, als hätte sie darin geschlafen. Aber am auffälligsten waren ihre Augen: aus ihnen sprach die schreckliche Panik, die die Arme empfand. Zuerst brachte er kein Wort über die Lippen, sondern schaute Charlotte nur hilflos an. Ihr Blick war ihm unangenehm vertraut.
Er hatte ihn in jener Nacht vor vielen Jahren an seiner Mutter gesehen, als sein Vater in einem Anfall von Wahn versucht hatte, sie zu töten...
Mühsam verdrängte er diese Erinnerung. Charlotte wandte sich ihm zu, und erst da erkannte er den dunklen violettfarbenen Bluterguss auf ihrer Wange. Vor Wut konnte er sich kaum fassen, geschweige denn auch nur ein Wort herausbringen.
„Bitte entschuldigen Sie“, sagte sie eilig. Sie glaubte natürlich, sein unverhohlener Zorn richtete sich gegen sie wegen ihres unerhört späten Erscheinens. „Ich weiß, es ist nicht zu entschuldigen, Sie um diese Uhrzeit zu wecken. Dazu fehlt mir jedes Recht. Aber ich wusste nicht, an wen ich mich sonst hätte wenden sollen. “ Die Stimme drohte ihr zu versagen. „Ich... dachte... “
Sie verstummte. Wie sollte sie ihm das alles nur erklären? Er starrte sie noch immer an, die Hände in den Taschen des Morgenrocks zu Fäusten
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