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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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der Löwen. Niemand würde ihm zu nahe kommen wollen. Sie würden seine Position als die des Schakals betrachten.

Paradice
    Sie schauten kurz in Crakes Büro vorbei, damit Jimmy sich ein bisschen orientieren könne, sagte Crake. Es war ein großer Raum mit allem möglichen Schnickschnack drin, wie es Jimmy nicht anders erwartet hätte. An der Wand war ein Bild: eine Aubergine auf einem orangefarbenen Teller. Soweit Jimmy sich erinnern konnte, war es das erste Bild, das er je in einem Raum von Crake gesehen hatte. Er dachte daran zu fragen, ob das Crakes Freundin sei, ließ es aber lieber.
    Er steuerte auf die Minibar zu. »Irgendwas da drin?«
    »Später«, sagte Crake.
    Crake hatte immer noch eine Sammlung von Kühlschrankmagneten, aber es waren andere. Keine wissenschaftlichen Spitzfindigkeiten mehr.
    Wo Gott ist, ist der Mensch nicht.
    Es gibt zwei Monde, den einen, den man sieht, und den anderen, den man nicht sieht.
    Du musst dein Leben ändern.
    Wir verstehen mehr, als wir wissen.
    Ich denke, also.
    Mensch zu bleiben heißt, eine Beschränkung zu durchbrechen.
    Der Traum stiehlt sich von seinem Lager zu seiner Beute.

    »Was treibst du denn nun wirklich hier oben?«, sagte Jimmy. Crake grinste. »Was heißt wirklich?«
    » Pseudo«, sagte Jimmy. Aber er war aus dem Gleichgewicht.

    So, sagte Crake, jetzt werde es ernst. Er wollte Jimmy noch eine weitere Sache zeigen, mit der sie beschäftigt waren – die Hauptsache hier im Paradice. Was Jimmy jetzt zu sehen bekäme sei… na ja, es ließe sich nicht beschreiben. Es sei, schlicht und einfach, Crakes Lebenswerk.
    Jimmy setzte ein angemessen feierliches Gesicht auf. Was kam als Nächstes? Irgendeine fürchterliche Nährsubstanz, kein Zweifel. Ein Leberbaum, eine Wurstranke. Oder eine Zucchiniart, auf der Wolle wuchs. Er machte sich auf einiges gefasst.
    Crake führte Jimmy weiter und herum; dann standen sie vor einem großen Schaufenster. Nein: einem verspiegelten Fenster. Jimmy schaute hinein. Da unten war ein großer freier Raum voller Bäume und Pflanzen, darüber ein blauer Himmel. (Nicht wirklich ein blauer Himmel, nur die Decke der Glaskuppel mit einer raffinierten Projektionsvorrichtung, die Morgengrauen, Sonnenschein, Abend und Nacht simulierte. Es gab einen künstlichen Mond, der seine Phasen durchlief, wie er später entdeckte. Es gab künstlichen Regen.) Es war das erste Mal, dass er die Craker zu sehen bekam. Sie waren nackt, aber nicht wie in den NoodieNews: Es war keine Befangenheit zu spüren, überhaupt keine. Zuerst konnte er nicht glauben, was er sah, so schön waren sie. Schwarz, gelb, weiß, braun, alle verfügbaren Hautfarben. Jedes Individuum war exquisit. »Sind das Roboter oder was?«, sagte er.
    »Du kennst doch die Muster, die man in Möbelgeschäften hat?«, sagte Crake.
    »Ja, und?«
    »Das hier sind die Muster.«

    Es sei das Ergebnis einer logischen Kette von Weiterentwicklungen, sagte Crake abends bei Drinks in der Paradice Lounge (künstliche Palmen, Musik vom Band, echter Campari, echtes Sodawasser). Sobald das Proteonom vollständig analysiert war und das Spleißen von Genen verschiedener Spezies sowie von Genteilen ernsthaft in Gang gekommen war, sei das Paradice-Projekt oder etwas Ähnliches nur eine Frage der Zeit gewesen.

    Was Jimmy gesehen habe, sei das vorläufige Endresultat von sieben Jahren intensiver Forschung.
    »Zunächst«, sagte Crake, »mussten wir normale menschliche Embryonen verändern, die wir uns beschafften, indem… ist ja egal, wie wir die beschafften. Aber diese Leute hier sind sui generis. Sie pflanzen sich inzwischen selbst fort.«
    »Sie sehen älter als sieben Jahre aus«, sagte Jimmy.
    Crake erklärte den Schnellwachstumsfaktor, den er eingebaut hatte.
    »Außerdem«, sagte er, »sind sie so programmiert, dass sie im Alter von dreißig tot umfallen – ganz plötzlich, ohne krank zu werden. Kein Altwerden, keine dieser Ängste. Sie kippen einfach um. Nicht, dass sie das wissen; noch ist keiner von ihnen gestorben.«
    »Ich dachte, du arbeitest an der Unsterblichkeit.«
    »Unsterblichkeit«, sagte Crake, »ist ein Konzept. Wenn du
    ›Sterblichkeit‹ nicht als Tod, sondern als das Wissen darum und die Furcht davor verstehst, dann ist ›Unsterblichkeit‹ die Abwesenheit solcher Furcht. Babys sind unsterblich. Edier die Angst raus, und du wirst…«
    »Klingt wie Angewandte Rhetorik 101«, sagte Jimmy.
    »Was?«
    »Egal. Martha-Graham-Zeug.«
    »Ach so. Verstehe.«
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