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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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in den Gezeitentümpeln und rufen den unglücklichen Fisch beim Namen – nur Fisch, nichts Spezifisches. Dann zeigen sie auf ihn, und die Männer töten ihn mit Steinen oder Stöcken. Auf diese Weise teilen sie sich die unangenehme Aufgabe, und keine einzelne Person macht sich schuldig, das Blut des Fisches vergossen zu haben.
    Wäre alles nach Crakes Wünschen verlaufen, gäbe es überhaupt keine Tötung dieser Art mehr – kein menschliches Raubtiertum –, aber er hat nicht mit Schneemensch und seinen tierischen Gelüsten gerechnet.
    Schneemensch kann nicht von Klee leben. Die Craker würden selbst nie einen Fisch essen, aber sie bringen ihm jede Woche einen, weil er ihnen gesagt hat, Crake habe es so beschlossen. Sie nehmen seine Monstrosität hin, sie wussten von Anfang an, dass er einer anderen Art angehörte, und waren also nicht weiter überrascht.
    Idiot, denkt er. Drei Mal am Tag, hätte ich sagen sollen. Er wickelt den warmen Fisch aus den Blättern und bemüht sich, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken. Er darf sich nicht derart gehen lassen. Aber es passiert ihm immer wieder.
    Die Leute halten Abstand und wenden den Blick ab, während er sich mit beiden Händen Fisch in den Mund stopft, die Fischaugen und –
    backen aussaugt und vor Behagen grunzt. Vielleicht ist es nicht anders, als einem Löwen beim Fressen zuzuhören, im Zoo, als es noch Zoos gab, als es noch Löwen gab – ein Reißen und Knacken, ein schreckliches Schlingen und Schlucken –, und, wie einst die Besucher der längst verschwundenen Zoos, können auch die Craker nicht anders, als verstohlene Blicke auf ihn zu werfen. Das Schauspiel der Verworfenheit ist sogar für sie interessant, wie es scheint, obwohl sie doch chlorophyllgeläutert sind.
    Als Schneemensch fertig ist, leckt er sich die Finger und wischt sie an seinem Laken ab; die Gräten legt er wieder in die Blatthülle, damit sie ins Meer zurückkehren können. Oryx wünsche es so, hat er ihnen gesagt: Sie brauche die Knochen ihrer Kinder, damit sie neue Kinder daraus machen könne. Sie haben seine Erklärung fraglos hingenommen, wie alles, was er über Oryx sagt. In Wahrheit ist das eine seiner klügeren Anweisungen: Es hat keinen Sinn, die Essensreste an Land herumliegen zu lassen, sie hätten nur Wakunks, Hunölfe, Organschweine und andere Aasfresser angelockt.

    Die Leute rücken näher, Männer und Frauen scharen sich um ihn, und ihre grünen Augen leuchten im Halbdunkel wie das Kaninchen: Sie tragen dasselbe Quallengen. Wenn sie alle so zusammensitzen, riechen sie wie eine Kiste Zitrusfrüchte – auch dies eine Eigenschaft, die sie Crake verdanken: Er meinte, die chemischen Substanzen müssten abschreckend auf Mücken wirken. Vielleicht hatte er Recht, denn wie es aussieht, stechen sämtliche Mücken im Umkreis von mehreren Meilen ausschließlich Schneemensch. Er widersteht dem dringenden Bedürfnis, nach ihnen zu schlagen: Sein frisches Blut erregt sie nur noch mehr. Er schiebt sich etwas nach links, so dass er mehr im Fackelrauch sitzt.
    »Schneemensch, erzähl uns von Crakes Taten.«
    Eine Geschichte wollen sie, eine Geschichte als Gegenleistung für jeden geschlachteten Fisch. Na ja, ich bin’s ihnen schuldig, denkt Schneemensch. Gott der Lügengeschichten, lass mich nicht im Stich.
    »Welchen Teil wollt ihr heute Abend hören?«, sagt er.
    »Am Anfang«, gibt eine Stimme das Stichwort. Sie lieben Wiederholungen, sie lernen alles auswendig.
    »Am Anfang war das Chaos«, sagt er.
    »Zeig uns das Chaos, bitte, o Schneemensch!«
    »Zeig uns ein Bild des Chaos!«
    Am Anfang hatten sie mit Bildern gekämpft – Blumen auf Sonnenschutzflaschen, die sie im Müll fanden, Früchte auf Getränkedosen. Ist das echt? Nein, es ist nicht echt. Was ist das – nicht echt? Nicht Echt kann uns etwas über Echt sagen. Und so weiter. Aber jetzt scheinen sie das Prinzip begriffen zu haben.
    »Ja! Ja! Ein Bild vom Chaos!«, rufen sie.
    Er hat damit gerechnet – alle Geschichten beginnen mit Chaos – und ist vorbereitet. Er greift hinter sein Betonplattenversteck und holt einen seiner Funde hervor – einen orangefarbenen Plastikeimer, inzwischen zu rosa verblasst, aber sonst unbeschädigt. Er versucht, sich nicht vorzustellen, was mit dem Kind geschehen ist, das ihn einst besessen hat. »Bringt mir ein bisschen Wasser«, sagt er und hält ihnen den Eimer hin. Es kommt Bewegung in den Kreis der Fackeln: Hände werden ausgestreckt, Füße hasten davon in die Dunkelheit.
    »Im Chaos

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