Oryx und Crake
Dunkelheit. Streckte er die Hand aus, könnte er sie berühren; aber dann würde sie verschwinden.
»Es war nicht der Sex«, sagt er zu ihr. Sie gibt keine Antwort, aber er spürt, dass sie ihm nicht glaubt. Es macht sie traurig, weil er ihr damit einiges von ihrem Wissen, ihrer Macht nimmt. »Es war nicht nur der Sex.« Ein dunkles Lächeln von ihr: Das ist schon besser. »Du weißt, dass ich dich liebe. Du bist die Einzige.« Sie ist nicht die erste Frau, der er das gesagt hat. Er hätte diese Worte nicht durch zu häufigen Gebrauch in früheren Jahren verschleißen, hätte sie nicht als Werkzeug, als Hebel, als Schlüssel benutzen sollen, um Frauen zu öffnen. Als er dann so weit war, dass er sie ernst meinte, klangen sie in seinen Ohren so falsch, dass er sich schämte, sie auszusprechen. »Nein, wirklich«, sagt er zu Oryx.
Keine Antwort, keine Reaktion. Besonders mitteilsam war sie ja nie, nicht einmal in den besten Zeiten.
»Sag mir nur eines«, fing er oft an, früher, als er noch Jimmy war.
»Stell mir eine Frage«, pflegte sie zu antworten.
Also fragte er, und sie sagte dann: »Ich weiß nicht. Ich hab’s vergessen.« Oder: »Das möchte ich dir nicht sagen.« Oder: »Jimmy, du bist schlimm, das geht dich nichts an.« Einmal hatte sie gesagt: »Du hast eine Menge Bilder im Kopf, Jimmy. Woher eigentlich? Warum denkst du, es wären Bilder von mir?«
Er meinte ihre Unbestimmtheit, ihre ausweichende Art zu verstehen.
»Schon gut«, sagte er dann und strich ihr über die Haare. »Nichts davon war deine Schuld.«
»Nichts wovon, Jimmy?«
Wie lang hatte er gebraucht, um sie aus den Splittern zusammenzusetzen, die er so gewissenhaft gesammelt hatte? Da war Crakes Geschichte von ihr und Jimmys Geschichte von ihr, eine romantischere Version; dann war da ihre eigene Version, die von den beiden anderen erheblich abwich und überhaupt nicht sehr romantisch war. Im Geist blättert Schneemensch in diesen drei Geschichten. Es muss noch andere Versionen geben: die Geschichte ihrer Mutter, die Geschichte des Mannes, der sie gekauft hat, die Geschichte des dritten Mannes – das war der Schlimmste von allen, ein Kerl aus San Francisco, ein scheinheiliger Pseudokünstler; aber diese Geschichten bekam Jimmy nie zu hören.
Oryx war so grazil. Filigran, dachte er, wenn er sich die Knochen in ihrem schmalen Körper vorstellte. Sie hatte ein dreieckiges Gesicht –
große Augen, kleiner Kiefer –, das Gesicht eines Hautflüglers, einer Gottesanbeterin, einer Siamkatze. Eine Haut vom blassesten Gelb, glatt und durchscheinend, wie uraltes, kostbares Porzellan. Wenn man sie ansah, begriff man, dass eine Frau von solcher Schönheit, solcher Schmächtigkeit und bitterarmer Herkunft ein schwieriges Leben geführt haben musste und dass dieses Leben sicher nicht darin bestanden hatte, Fußböden zu schrubben.
»Hast du je Fußböden geschrubbt?«, fragte Jimmy einmal.
»Fußböden?« Sie überlegte eine Minute. »Wir hatten keine Fußböden.
Als ich es zu Fußböden gebracht hatte, war nicht ich diejenige, die sie schrubbte.« Eines erzählte sie jedoch aus dieser frühen Zeit, der Zeit ohne Fußböden: Die Böden aus gestampftem Lehm wurden jeden Tag gefegt. Das war wichtig, denn man schlief darauf und saß beim Essen darauf. Niemand wollte mit altem Essen in Berührung kommen.
Niemand wollte Flöhe.
Oryx kam zur Welt, als Jimmy sieben oder acht oder neun war. Wo genau? Schwer zu sagen. An einem fernen, fremden Ort.
Es sei jedenfalls ein Dorf gewesen, sagte Oryx. Ein Dorf mit Bäumen ringsum und Feldern im weiteren Umkreis, möglicherweise Reisfeldern.
Die Hütten waren mit irgendeinem Reet gedeckt – mit Palmwedeln? –, die besten Hütten hatten sogar Blechdächer. Ein Dorf in Indonesien oder in Myanmar? Nein, dort nicht, sagte Oryx, aber sicher war sie nicht.
Indien war es auch nicht. Vietnam?, riet Jimmy weiter. Kambodscha?
Oryx blickte auf ihre Hände, prüfte ihre Fingernägel. Es war unwichtig.
Sie erinnerte sich nicht, welche Sprache sie als Kind gesprochen hatte.
Sie war zu jung, um sie zu behalten, diese allererste Sprache: Die Wörter waren alle aus ihrem Kopf getilgt. Fest stand, dass in der Stadt, in die man sie zuerst brachte, eine andere Sprache gesprochen wurde, nicht nur ein anderer Dialekt: Sie hatte eine ganz neue Art zu sprechen lernen müssen. Daran erinnerte sie sich: die Schwere und Unförmigkeit der Wörter in ihrem Mund, das Gefühl, mit Stummheit geschlagen zu sein.
In diesem Dorf
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