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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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anderes übrig bleiben, als sich an Lianen von Baum zu Baum zu schwingen, wie Tarzan. Das ist eine witzige Vorstellung; er lacht. »Ihr wollt ja bloß meinen Körper!«, schreit er ihnen zu. Dann leert er die Flasche und schleudert sie hinunter. Er hört ein Aufjaulen, Davontraben: Noch haben sie Respekt vor Wurfgeschossen. Aber wie lange noch? Sie sind schlau; sehr bald werden sie seine Verwundbarkeit wittern und Jagd auf ihn machen. Und dann kann er nirgends mehr hingehen, kann sich nirgends aufhalten, wo es keine Bäume gibt. Sie brauchen ihn nur irgendwo auf einer offenen Fläche zu erwischen, ihn einzukreisen und ihm zu Leibe zu rücken. Mit Steinen und spitzen Stöcken lässt sich nicht sehr viel ausrichten. Er muss unbedingt eine neue Energiepistole finden.

    Als die Hunölfe fort sind, liegt er rücklings auf der Plattform und blickt durch die sich sanft bewegenden Blätter zu den Sternen hinauf. Sie scheinen ganz nah, die Sterne, und sind in Wirklichkeit unendlich weit fort. Ihr Licht ist um Millionen, Milliarden Jahre veraltet. Botschaften ohne Absender.
    Die Zeit vergeht. Er möchte ein Lied singen, aber es fällt ihm nichts ein. Alte Musik steigt in ihm auf und verblasst wieder; alles, was er noch hört, ist das Schlagzeug. Vielleicht kann er sich eine Flöte schnitzen, aus einem Ast oder Stamm oder sonst was, wenn er nur ein Messer fände.
    »Die goldnen Sternlein prangen«, sagt er. Wie fängt es an, wie geht es weiter? Es ist ihm vollkommen entfallen.
    Kein Mond heute Nacht, es ist Neumond, obwohl der Mond trotzdem da ist und jetzt wahrscheinlich gerade aufgeht, eine riesige, unsichtbare, steinerne Kugel, ein gewaltiger Klumpen Schwerkraft, tot, aber mächtig, er zieht das Meer zu sich. Zieht alle Flüssigkeiten an. Der menschliche Körper besteht zu achtundneunzig Prozent aus Wasser, behauptet das Buch in seinem Kopf. Diesmal ist es eine Männerstimme, eine enzyklopädische Stimme. Die übrigen zwei Prozent sind Mineralien, vor allem das im Blut enthaltene Eisen und das Kalzium des Skeletts und der Zähne.
    »Das interessiert keinen Rattenarsch«, sagt Schneemensch. Das Eisen in seinem Blut oder das Kalzium in seinem Skelett sind ihm egal; er hat sich endgültig satt, er möchte jemand anders sein. Alle Zellen umdrehen, eine Chromosomentransplantation durchführen lassen, seinen Kopf gegen einen anderen eintauschen, einen mit besserem Inhalt. Mit Fingern zum Beispiel, die über ihn hinwegstreichen, kleine Finger mit ovalen Nägeln, auberginefarben, karmesinrot, teerosenrosa lackiert. Ich wünsche mir, ich wünsche mir, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Finger, ein Mund. Am unteren Ende seiner Wirbelsäule setzt ein dumpfer, heftiger Schmerz ein.
    »Oryx«, sagt er, »ich weiß, dass du da bist.« Er wiederholt den Namen. Es ist nicht einmal ihr richtiger Name, den er sowieso nie erfahren hat; es ist nur ein Wort. Ein Mantra.
    Manchmal kann er sie heraufbeschwören. Zuerst ist sie blass und schemenhaft, aber wenn er ihren Namen wieder und wieder sagen kann, dann schlüpft sie vielleicht in ihn hinein und wohnt mit ihm in seinem Körper, und seine Hand wird zu ihrer Hand. Aber sie war schon immer ausweichend, sie lässt sich nicht festnageln. An diesem Abend lehnt sie es ab, sich zu materialisieren, und er bleibt allein, lächerlich wimmernd und wichsend, ganz allein in der Dunkelheit.

Oryx
    Schneemensch schreckt abrupt aus dem Schlaf. Hat ihn jemand berührt?
    Aber es ist niemand da, nichts.
    Es ist vollkommen finster, keine Sterne. Anscheinend sind Wolken aufgezogen.
    Er dreht sich um, zieht das Laken fester um sich. Er schaudert: Es ist der Nachtwind. Höchstwahrscheinlich ist er noch betrunken; das lässt sich manchmal schwer feststellen. Er starrt in die Dunkelheit hinauf, überlegt, wann es wohl hell werden wird, und hofft, dass er wieder einschlafen kann.
    Von irgendwoher tönt der Ruf einer Eule. Diese wilde, heftige Schwingung, ganz nahe und zugleich weit entfernt, wie der niedrigste Ton einer peruanischen Flöte. Vielleicht jagt sie. Was jagt sie?
    Er kann jetzt spüren, dass Oryx durch die Luft zu ihm schwebt wie auf weichen, gefiederten Flügeln. Jetzt landet sie, lässt sich nieder; sie ist ihm ganz nahe, liegt neben ihm, seitlich ausgestreckt, nur um Hautbreite entfernt. Wunderbarerweise findet sie neben ihm noch Platz, obwohl die Plattform doch ganz schmal ist. Hätte er eine Kerze oder eine Taschenlampe, könnte er sie sehen, ihre schlanke Silhouette, ein mattes Schimmern vor der

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