Oryx und Crake
waren alle arm, und es gab sehr viele Kinder, sagte Oryx. Sie selbst war noch ziemlich klein, als sie verkauft wurde. Ihre Mutter hatte mehrere Kinder, darunter zwei ältere Söhne, die bald groß genug sein würden, um auf den Feldern zu arbeiten, was sehr gut war, denn der Vater war krank. Er hustete fast ununterbrochen; dieser Husten skandierte ihre frühesten Erinnerungen.
Irgendeine Lungenkrankheit, hatte Jimmy vermutet. Natürlich rauchten sie alle wie die Wahnsinnigen, wann immer sie an Zigaretten kamen: Rauchen machte das Leben erträglicher. (Er gratulierte sich zu dieser Erkenntnis.) Die Dorfbewohner führten die Krankheit des Vaters auf verseuchtes Wasser, ein widriges Schicksal, böse Geister zurück.
Jeder Krankheit haftete etwas Beschämendes an; niemand wollte von der Krankheit eines anderen angesteckt werden. Deshalb hatte man zwar Mitleid mit Oryx’ Vater, ging ihm aber aus dem Weg und gab ihm insgeheim die Schuld an seiner Lage. Seine Frau pflegte ihn mit stummem Groll.
Allerdings wurden die Glocken geläutet. Es wurden Gebete gesprochen und kleine Bilder im Feuer verbrannt. Das alles half nichts, der Vater starb. Alle im Dorf wussten, was als Nächstes geschehen würde, denn wenn kein Mann in der Familie war, der auf den Reis- oder Getreidefeldern arbeiten konnte, musste das Lebensnotwendige von anderswoher kommen.
Oryx war ein jüngeres, häufig beiseite geschobenes Kind gewesen, aber nun wurde auf einmal viel Aufhebens um sie gemacht, sie bekam besseres Essen als sonst und eine schöne blaue Jacke, denn die anderen Frauen im Dorf halfen mit und wollten, dass sie gesund und hübsch aussah. Kinder, die hässlich, missgebildet oder nicht besonders klug waren oder die nicht gut reden konnten, ließen sich überhaupt nicht oder nur zu viel niedrigeren Preisen verkaufen. Vielleicht wären die anderen Frauen selbst eines Tages zum Verkauf von Kindern gezwungen, und wenn sie jetzt halfen, könnten sie dann ebenfalls mit Hilfe rechnen.
Im Dorf galt diese Transaktion nicht als »Verkauf«. Immer hieß es, die Kinder gingen fort, um eine Lehre zu machen: Sie lernten, in der weiten Welt ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Damit wurde die Sache versüßt. Außerdem: Was gäbe es denn für sie zu tun, wenn sie blieben, wo sie waren? Vor allem die Mädchen, sagte Oryx. Sie würden nur heiraten und weitere Kinder zur Welt bringen, die dann ihrerseits verkauft werden mussten. Verkauft oder in den Fluss geworfen, der sie ins Meer mitnahm; es war eben nur eine bestimmte Menge an Nahrung da, und die reichte nicht für alle.
Eines Tages kam ein Mann ins Dorf. Es war derselbe wie immer.
Normalerweise kam er mit dem Auto auf der holprigen Lehmstraße, diesmal aber hatte es sehr viel geregnet, und die Straße war schlammig.
Jedes Dorf hatte so einen Mann, der die gefährliche Reise von der Stadt her auf sich nahm; er kam in unregelmäßigen Abständen, aber man wusste es jedes Mal im Voraus, wenn er wieder auf dem Weg war.
»Was für eine Stadt?«, fragte Jimmy.
Aber Oryx lächelte nur. Dieses Gesprächsthema mache sie hungrig, sagte sie. Ob der liebe Jimmy vielleicht den Pizzaservice anrufen wolle?
Champignons, Artischockenherzen, Sardellen, keine Peperoni. »Du auch?«, sagte sie.
»Nein«, sagte Jimmy. »Warum sagst du’s mir nicht?«
»Warum interessiert es dich?«, fragte Oryx. »Mich interessiert es nicht. Ich denke nicht mal dran. Es ist alles so lang her.«
Dieser Mann – sagte Oryx, musterte die Pizza, als wäre sie ein Puzzle, und klaubte die Pilze herunter, die sie gern als Erstes aß – kam immer in Begleitung von zwei anderen, die seine Diener waren und Gewehre hatten, um Banditen abzuwehren. Er trug teure Kleider, und abgesehen von Schlamm und Staub – auf dem Weg ins Dorf wurde jeder schlammig und staubig – war er sauber und gepflegt. Er hatte eine Uhr, ein glänzende goldfarbene Uhr, auf die er häufig blickte, indem er ostentativ den Ärmel hinaufschob, damit auch alle sie sahen; diese Uhr war beruhigend, ein Qualitätssiegel. Vielleicht war sie sogar echt Gold: Das behaupteten manche.
Der Mann galt nicht als Krimineller irgendeiner Art, sondern als ehrenwerter Geschäftsmann, der nicht betrog, jedenfalls nicht sehr, und bar bezahlte. Deshalb wurde er respektvoll behandelt und gastfreundlich aufgenommen, schließlich wollte sich kein Dorfbewohner bei ihm unbeliebt machen. Was, wenn er seine Besuche einstellte? Was, wenn eine Familie ein Kind verkaufen musste und er es nicht
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