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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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einschränken. Mit anderen Worten – und bis zu einem gewissen Grad natürlich –, je weniger wir essen, desto mehr vögeln wir.«
    »Worauf führst du das zurück?«, sagte Jimmy.
    »Vorstellungskraft«, sagte Crake. »Die Menschen können sich ihren Tod vorstellen, sie können ihn herannahen sehen, und der bloße Gedanke an den bevorstehenden Tod wirkt wie ein Aphrodisiakum. So verhält sich kein Hund, kein Kaninchen. Oder sieh dir die Vögel an – in mageren Zeiten reduzieren sie die Zahl der Eier oder paaren sich überhaupt nicht, sondern verwenden ihre Energie darauf, selber am Leben zu bleiben, bis wieder bessere Zeiten kommen. Der Mensch dagegen hofft, er könnte seinem Nachwuchs, einer neuen Version seiner selbst, seine Seele weitergeben und auf diese Weise ewig leben.«
    »Als Spezies weiht uns also die Hoffnung dem Untergang?«
    »Du kannst das Hoffnung nennen – oder Verzweiflung.«
    »Aber ohne Hoffnung sind wir genauso verloren«, sagte Jimmy.
    »Nur als Individuen«, antwortete Crake vergnügt.
    »Beschissen, finde ich.«
    »Jimmy, werd endlich erwachsen.«
    Crake war nicht der Erste, von dem er das zu hören bekam.

    Der Mann mit der Golduhr blieb mit seinen Dienern und ihren Gewehren über Nacht, er aß mit den Männern des Dorfs, trank mit ihnen. Schachtelweise verteilte er Zigaretten, in Gold- und Silberverpackung, noch mit der Zellophanhülle. Am Morgen sah er sich die zum Verkauf stehenden Kinder an und stellte ein paar Fragen – ob sie Krankheiten gehabt hätten, ob sie gehorsam seien. Und er prüfte ihre Zähne. Sie brauchten gute Zähne, sagte er, denn sie müssten viel lächeln. Dann traf er seine Auslese, Geld wechselte den Besitzer, er verabschiedete sich, und überall gab es höfliches Nicken und Verbeugungen. Er nahm drei oder vier Kinder mit, nie mehr; das war die Zahl, die er bewältigen konnte. Das bedeutete, er konnte sich die besten Exemplare aussuchen. Genauso ging er in allen anderen Dörfern seines Reviers vor. Er war bekannt für seinen guten Geschmack und sein Urteilsvermögen.
    Oryx sagte, es sei mit Sicherheit sehr schlimm für ein Kind gewesen, wenn es abgelehnt wurde. Das Leben im Dorf wurde danach schwerer, das Kind verlor an Wert, bekam weniger zu essen. Sie selbst sei als Allererste ausgesucht worden.
    Manchmal weinten die Mütter und auch die Kinder, aber die Mütter sagten den Kindern, sie täten etwas Gutes, seien eine Stütze für ihre Familie und sollten mit dem Mann gehen und alles tun, was er ihnen sagte. Wenn sie eine Zeit lang in der Stadt gearbeitet hätten und die Lage wieder besser sei, könnten sie ins Dorf zurückkehren, sagten die Mütter. (Kein Kind kam je zurück.)
    Das alles wurde verstanden und wenn nicht gebilligt, so doch verziehen. Trotzdem, wenn der Mann wieder fort war, fühlten sich die Mütter, die ihre Kinder verkauft hatten, traurig und leer. Es kam ihnen vor, als wäre ihre Entscheidung, die sie doch aus freien Stücken getroffen hatten – niemand hatte sie gezwungen, niemand hatte sie bedroht –, gegen ihren Willen gefallen. Sie fühlten sich auch betrogen, als wäre der Preis zu niedrig gewesen. Warum hatten sie nicht mehr verlangt? Aber, sagten sich die Mütter, sie hatten ja keine andere Wahl gehabt.

    Oryx’ Mutter verkaufte zwei ihrer Kinder gleichzeitig. Sie tat es nicht nur, weil sie in Bedrängnis war, sondern weil sie dachte, die beiden könnten einander Gesellschaft leisten, könnten sich umeinander kümmern. Das andere Kind war ein Junge, ein Jahr älter als Oryx. Es wurden weniger Jungen verkauft als Mädchen, was aber nicht bedeutete, dass sie deshalb höher geschätzt wurden.

    (Oryx deutete den Doppelverkauf als Beweis, dass ihre Mutter sie geliebt hatte. Sie hatte keine Bilder für diese Liebe. Sie konnte keine Anekdoten vorweisen. Es war weniger eine Erinnerung als ein Glaube.) Der Mann sagte, er erweise Oryx’ Mutter einen besonderen Gefallen, denn Jungen machten mehr Ärger, sie gehorchten nicht und rissen häufiger aus, und wer werde ihn dann für die Scherereien bezahlen?
    Dieser Junge habe auch nicht die richtige Einstellung, das sei auf den ersten Blick klar, er hatte einen schwarzen Schneidezahn, das gebe ihm einen kriminellen Ausdruck. Aber da er wisse, dass sie das Geld brauche, wolle er großzügig sein und ihr den Jungen abnehmen.

Vogelruf
    Oryx sagte, sie erinnere sich nicht an die Fahrt vom Dorf in die Stadt, aber von dem, was danach passiert sei, wisse sie noch manches. Es sei wie Bilder an einer

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