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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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kaufen wollte, weil er bei einem früheren Besuch beleidigt worden war? Er war die Bank der Dorfbewohner, ihre Versicherungspolice, ihr wohlwollender reicher Onkel, ihr einziger Talisman gegen Unglück. Und er wurde immer öfter benötigt, denn das Wetter war so seltsam geworden und ließ sich überhaupt nicht mehr vorhersagen – zu viel Regen oder bei weitem nicht genug, zu viel Wind, zu viel Hitze –, und die Ernten litten darunter.
    Der Mann lächelte viel und begrüßte etliche Männer aus dem Dorf beim Namen. Stets hielt er eine kleine Rede, jedes Mal dieselbe. Alle sollten glücklich sein, pflegte er zu sagen. Er wolle Zufriedenheit auf beiden Seiten und nirgendwo böses Blut. Habe er sich nicht ein Bein für sie ausgerissen und auch Kinder genommen, die reizlos und dumm waren, eine Last in seinen Händen, nur um ihren Eltern einen Gefallen zu tun? Falls sie mit seinem Geschäftsgebaren nicht einverstanden seien, sollten sie es nur sagen. Aber niemand äußerte Kritik, obwohl hinter seinem Rücken viel gemurrt wurde: Nie zahle er mehr als das absolute Minimum, hieß es. Allerdings wurde er dafür auch bewundert, denn es zeigte, dass er sein Geschäft verstand und die Kinder bei ihm in kompetenten Händen waren.

    Jedes Mal, wenn der Mann mit der Golduhr ins Dorf kam, nahm er mehrere Kinder mit, die in der Stadt auf der Straße Blumen an die Touristen verkaufen sollten. Die Arbeit sei leicht, und die Kinder würden gut behandelt, versicherte er den Müttern: Er sei kein gemeiner Gangster oder Lügner und natürlich auch kein Zuhälter. Sie würden ordentlich ernährt und bekämen einen sicheren Schlafplatz, würden gewissenhaft beaufsichtigt und erhielten einen bestimmten Geldbetrag, den sie ihrer Familie schicken oder selbst behalten könnten, das sei ihnen überlassen. Dieser Betrag sei der Lohn ihrer Arbeit abzüglich der Ausgaben für Kost und Logis. (Im Dorf kam nie Geld an. Das wussten alle.) Für die kindlichen Lehrlinge werde er den Vätern beziehungsweise verwitweten Müttern einen guten Preis bezahlen. Er sagte jedenfalls, es sei ein guter Preis; und wenn man bedachte, was die Leute sonst so gewöhnt waren, war er wirklich ganz anständig. Mit Geld aus dem Verkauf eines Kindes konnten die Mütter ihren übrigen Kindern ein besseres Leben ermöglichen. Das versicherten sie einander.

    Jimmy war empört, als er zum ersten Mal davon hörte. Er befand sich damals in seiner Empörungsphase. Und in der Phase, in der er sich bei allem, was Oryx betraf, zum Narren machte.
    »Das verstehst du nicht«, sagte Oryx. Sie saß im Bett und war noch mit der Pizza beschäftigt; dazu gab es Cola und als Beilage Pommes frites. Mit den Champignons war sie fertig und verspeiste jetzt die Artischockenherzen. Den Teigrand ließ sie stets übrig. Essen wegzuwerfen, sagte sie, gebe ihr das Gefühl, steinreich zu sein. »Das haben viele getan. So war es Brauch.«
    »Ein Scheißbrauch«, sagte Jimmy. Er saß auf einem Stuhl neben dem Bett und beobachtete ihre rosige Katzenzunge, mit der sie sich die Finger ableckte.
    »Jimmy, du bist schlimm, du sollst doch nicht fluchen. Magst du die Peperoni? Du hast zwar keine bestellt, aber sie haben trotzdem welche drauf gelegt. Wahrscheinlich haben sie dich falsch verstanden.«
    »Scheiße zu sagen ist kein Fluchen. Es ist allenfalls eine plastische Beschreibung.«
    »Na gut, ich meine trotzdem, du solltest das nicht sagen.« Inzwischen war sie bei den Sardellen angelangt, die sie immer bis zuletzt aufsparte.
    »Ich würde den Kerl am liebsten umbringen.«
    »Welchen Kerl? Möchtest du den Rest Cola? Mir wird es zu viel.«

    »Den Kerl, von dem du erzählt hast.«
    »Ach Jimmy, wär’s dir lieber, wenn wir alle verhungert wären?«, fragte Oryx mit ihrem kleinen plätschernden Lachen. Dieses Lachen fürchtete er am meisten, denn dahinter verbarg sich eine belustigte Verachtung. Es ließ ihn frösteln: ein kalter Windhauch auf einem mondbeschienenen See.

    Natürlich war er mit seiner Empörung zu Crake gerannt. Er hatte auf Möbel eingedroschen: Das war die Phase, in der er auf Möbel eindrosch. Was Crake zu sagen hatte, war Folgendes: »Jimmy, sieh’s realistisch. Eine minimale Ernährungslage und eine ständig wachsende Bevölkerung lassen sich auf Dauer nicht unter einen Hut bringen. Homo sapiens ist offensichtlich nicht in der Lage, auf ständige Reproduktion zu verzichten. Er ist eine der wenigen Spezies, die angesichts schwindender Ressourcen ihre Fortpflanzung nicht

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