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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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nahe sein.
    Am nächsten Morgen gingen sie weiter und kamen zu der Stelle, wo Onkel En sein Auto zurückgelassen hatte, in der Obhut mehrerer Männer aus einem Dorf, das kleiner als ihr Heimatdorf war, auch schmutziger. Frauen und Kinder spähten aus den Türen der Hütten, lächelten aber nicht. Eine Frau machte das Zeichen zur Abwehr des Bösen.
    Onkel En vergewisserte sich, dass am Auto nichts fehlte, bezahlte die Männer und befahl den Kindern, einzusteigen. Oryx hatte noch nie in einem Auto gesessen und mochte den Geruch nicht. Es war kein Solarauto, sondern eines von der Sorte, die mit Benzin fuhren, und es war nicht neu. Einer der Männer fuhr, Onkel En saß neben ihm, und der andere Mann saß zusammengepfercht mit allen vier Kindern auf dem Rücksitz. Onkel En war schlecht gelaunt und sagte, sie sollten keine Fragen stellen. Die Straße war holprig, und im Auto war es stickig und heiß. Oryx wurde übel, sie fürchtete, sich übergeben zu müssen, aber dann nickte sie ein.
    Sie waren anscheinend ziemlich lange gefahren; als sie anhielten, war wieder Nacht, Onkel En und der Fahrer gingen zu einem niedrigen Gebäude, einer Art Gasthof vielleicht; der andere Mann streckte sich auf den Vordersitzen aus und begann bald zu schnarchen. Die Kinder schliefen mehr schlecht als recht auf der Rückbank. Die hinteren Türen waren verriegelt: Um auszusteigen, hätten sie über den Mann hinwegklettern müssen, und das wagten sie nicht, denn er hätte denken können, dass sie zu fliehen versuchten. Ein Kind machte während der Nacht in die Hose, Oryx konnte es riechen; sie selbst war es nicht. Am Morgen wurden sie alle hinter das Gebäude gescheucht, wo es eine offene Latrine gab. Ihnen gegenüber stand ein Schwein und beobachtete sie, während sie dort hockten.
    Nach weiteren Stunden holpriger Fahrt hielten sie vor einer Schranke; zwei Soldaten standen da. Onkel En erzählte den Soldaten, die Kinder seien lauter Nichten und ein Neffe von ihm: Ihre Mutter sei gestorben, und er habe sie zu sich genommen, um sie in seiner Familie aufzuziehen. Jetzt lächelte er wieder.
    »Du hast aber viele Nichten und Neffen«, sagte einer der Soldaten grinsend.
    »Das ist mein Unglück«, sagte Onkel En.
    »Und alle ihre Mütter sterben.«
    »Das ist die traurige Wahrheit.«
    »Wir sind nicht sicher, ob wir dir glauben sollen«, sagte der andere Soldat, ebenfalls grinsend.
    »Bitte sehr«, sagte Onkel En. Er zog Oryx aus dem Auto. »Wie heiße ich?«, fragte er und beugte sein lächelndes Gesicht tief zu ihr hinunter.
    »Onkel En«, sagte sie. Die beiden Soldaten lachten und Onkel En ebenfalls. Er klopfte Oryx auf die Schulter, forderte sie auf, wieder einzusteigen, und verabschiedete sich von den Soldaten. Er steckte zuerst die Hand in die Tasche, schüttelte dann ihre Hände, dann öffneten die Soldaten die Schranke, und als der Wagen wieder die Straße entlangfuhr, schenkte Onkel En Oryx ein hartes Bonbon in Form einer winzigen Zitrone. Sie lutschte es eine Weile und nahm es dann aus dem Mund, um es aufzubewahren. Aber sie hatte keine Tasche und musste es mit klebrigen Fingern festhalten. In der Nacht tröstete sie sich damit, dass sie ihre Hand ableckte.
    Die Kinder weinten nachts, ganz leise. Sie weinten vor sich hin. Sie waren verängstigt, wussten nicht, wo sie hingebracht wurden, und waren von allem getrennt worden, was sie kannten. Außerdem, sagte Oryx, wurden sie nicht mehr geliebt – wenn sie überhaupt je geliebt worden waren. Aber einen Geldwert hatten sie: Sie bedeuteten baren Gewinn für andere Leute. Das müssen sie gespürt haben – sie müssen gespürt haben, dass sie etwas wert waren.
    Natürlich, sagte Oryx, war Geldwert kein Ersatz für Liebe. Jedes Kind, überhaupt jeder Mensch sollte Liebe bekommen. Sie selbst hätte die Liebe ihrer Mutter vorgezogen – die Liebe, an die sie nach wie vor glaubte, die Liebe, die ihr in Vogelgestalt durch den Dschungel gefolgt war, damit sie nicht zu ängstlich und nicht zu allein war –, aber die Liebe war unzuverlässig, sie kam und ging, und deshalb war es gut, einen Geldwert zu besitzen, denn dann sorgten diejenigen, die von einem profitieren wollten, wenigstens dafür, dass man genug zu essen bekam und nicht zu sehr beschädigt wurde. Schließlich gab es viele, die weder Liebe noch Geldwert hatten, und eines von beiden zu haben war besser als nichts.

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