Oryx und Crake
der Seite, sollte man auf ihn zugehen und die Rosen in die Höhe halten und dazu lächeln. Man sollte nicht auf ihre komischen ausländischen Haare oder wasserfarbenen Augen starren oder gar lachen. Wenn sie eine Rose nahmen und fragten: Wie viel?, sollte man noch mehr lächeln und die Hand aufhaken. Wenn sie mit einem sprachen, Fragen stellten, sollte man gucken, als verstünde man nichts. Dieser Teil war ziemlich leicht. Sie gaben einem immer mehr –
manchmal viel mehr –, als die Blumen wert waren.
Das Geld musste man in eine kleine Tasche stecken, die man unter den Kleidern um den Hals hängen hatte: eine Vorsichtsmaßnahme gegen Taschendiebe und Handtaschenräuber, diese unglücklichen Straßenkinder, die nicht in der Obhut eines Onkel En standen. Wenn irgendjemand, vor allem ein Mann, einen an der Hand nehmen und irgendwohin bringen wollte, sollte man die Hand zurückziehen. Wenn er nicht losließ, sollte man sich hinsetzen. Das wäre ein Signal, woraufhin einer von Onkel Ens Männern oder Onkel En selbst herbeikäme. Nie sollte man in ein Auto steigen oder in ein Hotel mitgehen. Wenn ein Mann einen dazu aufforderte, sollte man es bei der nächsten Gelegenheit Onkel En mitteilen.
Oryx hatte von Onkel En einen neuen Namen bekommen. Alle Kinder bekamen neue Namen von ihm und sollten ihre alten Namen vergessen, was tatsächlich nicht lange dauerte. Oryx hieß jetzt SuSu. Sie war eine gute Rosenverkäuferin. Sie war so klein und zierlich, ihr Gesicht so klar und rein. Sie hatte ein Kleid bekommen, das ihr zu groß war; darin sah sie aus wie eine Engelspuppe. Die anderen Kinder verhätschelten sie, weil sie die Kleinste war. Nachts durfte reihum jedes neben ihr schlafen; sie wurde von einer Umarmung zur nächsten gereicht.
Wer konnte ihr widerstehen? Von den Ausländern kaum einer. Ihr Lächeln war perfekt – nicht großspurig oder aggressiv, sondern zögernd, scheu, ein Lächeln, das nichts für selbstverständlich nahm. Es war ein Lächeln ohne Hinterhältigkeit, es enthielt weder Groll noch Neid, nur das Versprechen aufrichtiger Dankbarkeit. »Bezaubernd«, murmelte die ausländische Dame, und der Mann an ihrer Seite kaufte eine Rose und reichte sie der Dame und wurde dadurch ebenfalls bezaubernd; und Oryx steckte die Münzen in die Tasche vorn unter ihrem Kleid und fühlte sich wieder für einen Tag sicher, weil sie ihre Quote verkauft hatte.
Bei ihrem Bruder war es anders. Er hatte kein Glück. Er wollte keine Blumen verkaufen wie ein Mädchen, und er hasste es, lächeln zu müssen, und wenn er doch lächelte, war die Wirkung wegen seines schwarzen Schneidezahns nicht gut. Also nahm ihm Oryx einige seiner übrig gebliebenen Rosen ab und versuchte sie für ihn zu verkaufen.
Onkel En hatte zuerst nichts dagegen – Geld war Geld –, aber dann sagte er, Oryx solle sich nicht so oft an denselben Orten blicken lassen, denn es wäre schlecht, wenn die Leute ihrer überdrüssig würden.
Für den Bruder musste also etwas anderes gefunden werden, irgendeine andere Beschäftigung. Das bedeutete Weiterverkauf. Die älteren Kinder im Zimmer schüttelten den Kopf: Der Bruder würde an einen Zuhälter verkauft werden, sagten sie; einen Zuhälter für haarige weiße ausländische Männer oder bärtige braune Männer oder fette gelbe Männer – Männer von der Sorte, die kleine Jungen mochten. Sie beschrieben in allen Einzelheiten, was diese Männer mit ihm anstellen würden, und lachten darüber. Er würde ein Melonenhintern werden: So nannte man Jungen wie ihn. Außen fest und rund, innen weich und süß; ein hübscher Melonenhintern für jeden, der zahlte. Entweder das, oder er müsste als Laufbursche arbeiten, von Straße zu Straße laufen und Botengänge für Spielhöllenbesitzer erledigen, und das war eine schwere und gefährliche Arbeit, denn die Rivalen im Glücksspielgeschäft brachten einen um, wenn sie konnten. Er könnte allerdings auch Melonenhintern und Laufbursche sein. Das war das Wahrscheinlichste.
Oryx sah, wie die Miene ihres Bruders sich verdüsterte und verhärtete, und war nicht überrascht, als er ausriss; ob er je wieder eingefangen und bestraft wurde, erfuhr sie nie. Sie fragte auch nicht, denn Fragen – das hatte sie inzwischen gelernt – war zwecklos.
Eines Tages nahm ein Mann Oryx an der Hand und sagte, sie solle mit ihm ins Hotel gehen. Sie warf ihm ihr scheues Lächeln zu, blickte schräg zu ihm empor und sagte nichts, zog aber ihre Hand zurück und erzählte es später Onkel En.
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