Oryx und Crake
Anfang standen die vier neuen Kinder unter Schock, als wären sie in einen Kessel mit heißem Wasser getaucht worden – als schmerzte sie die Stadt körperlich. Aber Onkel En hatte Erfahrung: Er behandelte die neuen Kinder, als wären sie Katzen, er ließ ihnen Zeit, sich an alles zu gewöhnen. Er steckte sie in ein kleines Zimmer im dritten, obersten Stock eines Hauses, wo es ein vergittertes Fenster gab, durch das sie hinausschauen, aber nicht hinausklettern konnten, und ließ sie dann schrittweise hinaus, zuerst nur eine kurze Strecke und jeweils nur für eine Stunde. Sie waren sehr beengt, denn es wohnten bereits fünf Kinder in dem Zimmer, aber es war immerhin genügend Platz für eine dünne Matratze pro Kind. Die Matratzen wurden nachts ausgerollt, so dass der gesamte Boden mit Matratzen und Kindern bedeckt war, und tagsüber wieder eingerollt. Sie waren zerschlissen und fleckig und rochen nach Urin; sie ordentlich aufzurollen war das Erste, was die neuen Kinder zu lernen hatten.
Von den älteren, erfahreneren Kindern lernten sie noch mehr. Die Hauptsache war, dass Onkel En sie immer im Auge behielt, auch wenn es so aussah, als wären sie allein in der Stadt unterwegs. Er wusste stets, wo sich jedes einzelne Kind aufhielt; er brauchte nur seine glänzende Uhr ans Ohr zu halten und wusste Bescheid, denn darin war eine kleine Stimme, der nichts entging. Das war beruhigend, damit war sichergestellt, dass ihnen niemand anderes etwas zu Leide tun würde.
Allerdings konnte Onkel En auch sehen, wenn man sich nicht genügend anstrengte oder wegzulaufen versuchte, oder wenn man von dem Geld, das man von den Touristen bekam, einen Teil selbst behielt. Dann wurde man bestraft. Onkel Ens Männer schlugen einen, und dann hatte man blaue Flecken. Es konnte auch sein, dass sie einem Brandwunden zufügten. Manche Kinder behaupteten, sie hätten diese Strafen erlitten, und waren stolz darauf: Sie hatten Narben vorzuweisen. Wenn man das Verbotene häufig genug beging – Faulheit, Diebstahl, Flucht –, wurde man weiterverkauft, an jemanden, der, so sagten sie, viel schlimmer war als Onkel En. Oder man wurde umgebracht und auf eine Müllhalde geworfen, und niemand interessierte sich dafür, denn es kannte einen ja niemand.
Oryx sagte, Onkel En habe sein Geschäft wirklich verstanden, denn Kinder glauben anderen Kindern viel eher als Erwachsenen, gerade im Hinblick auf Strafen. Erwachsene drohen mit allem Möglichen, das dann nie eintritt, Kinder aber erzählen, was passieren wird. Oder wovor sie sich fürchten. Oder was bereits passiert ist, ihnen selbst oder anderen Kindern, die sie gekannt haben.
In der Woche, nachdem Oryx und ihr Bruder in dem Matratzenlager angekommen waren, wurden drei ältere Kinder fortgebracht. Sie kämen in ein anderes Land, sagte Onkel En, und dieses Land heiße San Francisco. Ob das eine Strafe sei, weil sie nicht brav gewesen waren?
Nein, sagte Onkel En, es sei eine Belohnung für Bravsein. Alle, die folgsam und fleißig seien, kämen eines Tages vielleicht auch dorthin.
Oryx wollte nirgendwohin, außer nach Hause, aber in ihrer Erinnerung begann »zu Hause« bereits zu verblassen. Sie konnte noch den Geist ihrer Mutter hören, der Du kommst wieder rief, aber die Stimme wurde immer schwächer und war kaum noch zu verstehen. Sie klang nicht mehr wie eine Glocke, sondern wie ein Flüstern. Es war jetzt eher eine Frage, keine Feststellung; eine Frage ohne Antwort.
Oryx und ihr Bruder und die beiden anderen Neuankömmlinge wurden mitgenommen, damit sie zusahen, wie die erfahreneren Kinder Blumen verkauften. Es waren Rosen, rote, weiße, rosafarbene, frühmorgens vom Blumenmarkt geholt. Die Stängel waren dornenfrei, so dass die Rosen von Hand zu Hand gehen konnten, ohne jemanden zu stechen. Man musste vor den Eingängen der besten Hotels herumstehen – gute Standorte waren auch die Banken, in denen ausländisches Geld gewechselt wurde, und die teuren Geschäfte – und dabei stets ein wachsames Auge auf Polizisten haben: Wenn einer näher kam oder einen mit strengem Blick anstarrte, musste man schnell in die andere Richtung davongehen. Es war nämlich verboten, den Touristen Blumen zu verkaufen, es sei denn, man hatte eine amtliche Genehmigung, und solche Genehmigungen waren sehr teuer. Aber kein Grund zur Sorge, sagte Onkel En: Die Polizisten wüssten Bescheid, sie müssten nur so tun, als wären sie ahnungslos.
Wenn man einen Ausländer sah, vor allem einen mit einer ausländischen Frau an
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