Oryx und Crake
durchhalten. Wer der Vater des unvermeidlichen Kindes ist, spielt keine Rolle, denn es gibt nichts zu erben und auch keine kriegswichtige Vater-Sohn-Loyalität mehr. Sex ist nicht länger ein geheimnisvoller Ritus, beäugt mit zwiespältigen Gefühlen oder ausgesprochenem Abscheu, im Dunkeln ausgeführt und Anlass zu Mord und Selbstmord, sondern eher eine athletische Vorführung, eine fröhliche Balgerei.
Vielleicht hatte Crake Recht, denkt Schneemensch. Nach dem alten System war der sexuelle Wettbewerb gnadenlos und permanent: Auf jedes glückliche Liebespaar kam ein deprimierter Zuschauer, der Ausgeschlossene. Liebe bildete ihre eigene durchsichtige Blasenkuppel: Man konnte die beiden drinnen sehen und kam selbst nicht hinein.
Und das war noch die harmlosere Form gewesen: der einzelne Mann am Fenster, der zu traurigen Tangoklängen im Suff Vergessen sucht.
Aber es konnte ebenso gut in Gewalt ausarten. Extreme Gefühle waren manchmal tödlich. Wenn ich dich nicht haben kann, soll dich auch sonst keiner haben, und so weiter. Mord und Todschlag.
»Wie viel Elend«, sagte Crake einmal in der Mittagspause – es muss in der Zeit gewesen sein, als sie beide Anfang zwanzig waren und Crake bereits am Watson-Crick-Institut arbeitete –, »wie viel überflüssige Verzweiflung ist aus biologisch unpassenden Verbindungen hervorgegangen, aus der Unvereinbarkeit von Hormonen und Pheromonen. Mit dem Ergebnis, dass diejenige, die du so verzweifelt liebst, dich nicht lieben kann oder will. Als Spezies sind wir in dieser Hinsicht wirklich armselig: unvollkommen monogam. Wenn wir eine lebenslange Paarbindung zu Stande brächten, wie die Gibbons, oder aber uns für die totale Promiskuität ohne Schuldgefühle entscheiden könnten – es gäbe keine Liebesqualen mehr. Viel besser war doch: die Sache zyklisch und außerdem unvermeidlich machen, wie bei den anderen Säugern. Dann würdest du nie jemanden begehren, den du nicht haben kannst.«
»Wohl wahr«, antwortete Jimmy. Oder Jim, wie er jetzt forderte, allerdings ohne Erfolg: Alle nannten ihn weiterhin Jimmy. »Aber stell dir vor, was wir alles aufgeben würden.«
»Zum Beispiel?«
»Die Werbungskultur. In deinem Plan wären wir lauter Hormonroboter.« Jimmy sprach absichtlich von Werbungskultur, um sich an Crakes Ausdrucksweise anzupassen. Was er eigentlich meinte, waren die Herausforderung, die Erregung, die Jagd. »Es gäbe keine Wahlfreiheit mehr.«
»Mein Plan sieht sehr wohl Werbungskultur vor«, sagte Crake, »nur wäre sie immer erfolgreich. Und Hormonroboter sind wir sowieso, wenn auch fehlerhafte.«
»Und was ist mit der Kunst?«, sagte Jimmy ein wenig verzweifelt.
Schließlich studierte er an der Martha-Graham-Akademie und fühlte sich verpflichtet, das Kunst-und-Kreativität-Territorium zu verteidigen.
»Was soll damit sein?«, fragte Crake zurück und sah ihn mit seinem ruhigen Lächeln an.
»Diese Unvereinbarkeiten, von denen du redest. Sie waren immer eine Quelle der Inspiration. Sagt man jedenfalls. Denk an die Dichtung –
denk an Petrarca, denk an John Donne, denk an die Vita Nuova, denk an…«
»Kunst«, sagte Crake. »Da, wo du bist, wird wahrscheinlich immer noch ein ziemliches Trara darum gemacht. Wie sagte Byron so schön?
Wer würde schreiben, wenn er etwas anderes könnte? Irgendwas in der Art.«
»Eben, eben«, sagte Jimmy. Dass Crake Byron erwähnte, war alarmierend. Mit welchem Recht wilderte er in Jimmys heruntergekommenem, fadenscheinigem Revier? Crake sollte sich an die Naturwissenschaften halten und Byron Jimmy überlassen.
»Was, eben ?«, sagte Crake wie der Logopäde zum Stotterer.
»Ich meine, wenn du das andere nicht kriegst, dann…«
»Würdest du nicht lieber vögeln?«, sagte Crake. Er selbst war in der Frage nicht eingeschlossen: Er sprach im Tonfall unvoreingenommenen, nicht besonders großen Interesses, als führte er eine Umfrage über die weniger reizvollen, intimen Angewohnheiten der Leute durch, beispielsweise Nasenbohren.
Jimmy wusste, dass sein Gesicht röter, seine Stimme schriller wurde, je empörender Crake wurde. Er fand das schrecklich. »Wenn eine Zivilisation Staub und Asche ist«, sagte er, »ist die Kunst das Letzte, was übrig bleibt. Bilder, Worte, Musik. Strukturen der Vorstellungskraft. Inhalte – also der Sinn menschlicher Existenz –
definieren sich dadurch. Das musst du zugeben.«
»Kunst ist nicht das Einzige, was übrig bleibt«, sagte Crake. »Die Archäologen interessieren sich genauso
Weitere Kostenlose Bücher