Oryx und Crake
für Knochen und alte Ziegel und versteinerte Scheiße. Manchmal sogar noch mehr. Auch das definiert menschliche Bedeutung, finden sie.«
Warum musst du mich immer niedermachen, hätte Jimmy gern gefragt, fürchtete sich aber vor den möglichen Antworten, von denen eine lauten könnte: Weil es so leicht ist. Stattdessen fragte er: »Was hast du dagegen?«
»Wogegen? Versteinerte Scheiße?«
»Kunst.«
»Nichts«, sagte Crake träge. »Sollen sich die Leute amüsieren, wie sie wollen. Wenn es ihnen Spaß macht, öffentlich zu wichsen, sich über Gekritzel, Gekleckse, Fiedelei einen runterzuholen, bitte sehr, meinetwegen. Außerdem dient es einem biologischen Zweck.«
»Nämlich?« Jimmy war sich bewusst, dass alles davon abhing, die Nerven zu behalten. Diese Auseinandersetzungen mussten bis zum Ende durchgefochten werden, als wären sie ein Spiel: Wenn er die Beherrschung verlor, hatte Crake gewonnen.
»Der männliche Frosch«, sagte Crake, »macht während der Paarungszeit so viel Krach wie möglich. Die Weibchen fühlen sich zu dem Männchen mit der lautesten, tiefsten Stimme hingezogen, weil sie auf einen stärkeren Frosch schließen lässt, ein Exemplar mit überlegenen Genen. Kleine Froschmännchen – das ist belegt – verfallen auf den Trick, sich in ein leeres Abflussrohr zu setzen, das klangverstärkend wirkt, so dass der kleine Frosch viel größer erscheint, als er in Wirklichkeit ist.«
»Na und?«
»Das ist die Kunst für den Künstler«, sagte Crake. »Ein leeres Abflussrohr. Ein Verstärker. Ein Mittel, Sex zu kriegen.«
»Deine Analogie trägt nicht mehr, sobald es um Künstlerinnen geht«, sagte Jimmy. »Sie tun es nicht, um Sex zu kriegen. Sie haben keinen biologischen Vorteil zu erwarten, wenn sie sich verstärken, denn potenzielle Partner würden von dieser Art Verstärkung eher abgeschreckt als angezogen. Männer sind keine Frösche, und sie wollen keine Frauen, die zehn Mal so groß sind wie sie.«
»Künstlerinnen sind biologisch verwirrt«, sagte Crake. »Das dürftest du inzwischen gemerkt haben.« Das war ein höhnischer Seitenhieb auf Jimmys derzeitige komplizierte Romanze mit einer schwarzhaarigen Dichterin, die sich in Morgana umbenannt hatte und es ablehnte, ihm ihren wahren Namen zu verraten; zu dem Zeitpunkt hielt sie gerade ein achtundzwanzigtägiges Sexfasten zu Ehren der Großen Mondgöttin Ostre ein, der Schutzpatronin der Sojabohnen und Hasen. Martha Graham zog Mädchen dieser Art an. Ein Fehler allerdings, dass er Crake in diese Affäre eingeweiht hatte.
Arme Morgana, denkt Schneemensch. Was wohl aus ihr geworden ist?
Sie wird nie wissen, wie nützlich sie für mich war, sie und ihre Phrasendrescherei. Er kommt sich ein bisschen schofel vor, weil er den Crakern Morganas Gefasel als Kosmogonie verkauft hat. Aber sie sind anscheinend ganz zufrieden damit.
Schneemensch lehnt sich an einen Baum und lauscht den Geräuschen im Hintergrund. Meine Liebe ist wie eine blaue, blaue Rose. Nur der Mond schaut zu… Crake hat also seinen Kopf durchgesetzt, denkt er. Er lebe hoch. Keine Eifersucht mehr, keine erstochenen Ehefrauen, keine vergifteten Gatten. Alles ist bewundernswert gutmütig: kein Geschiebe und Gestoße mehr – eher geht es zu wie auf einem griechischen Fries aus goldener Zeit: Götter, die mit willigen Nymphen tändeln.
Warum ist er dann so niedergeschlagen, warum fühlt er sich so beraubt? Weil er Verhalten dieser Art nicht versteht? Weil es für ihn nicht mehr in Frage kommt? Weil er nicht mitmachen darf?
Und was würde passieren, wenn er es versuchte? Wenn er aus dem Gebüsch hervorbräche in seinem verdreckten, zerlumpten Laken, stinkend, haarig, geschwollen, geil wie ein bocksbeiniger, ziegenschwänziger Satyr oder ein einäugiger Freibeuter aus einem alten Piratenfilm und sich auf sie stürzte, mitten hinein in das blau leuchtende Liebesspiel? Er kann sich das Entsetzen vorstellen – wie wenn ein Orang-Utan in einen Ballsaal eingebrochen wäre, um eine funkelnde Pastellprinzessin zu befummeln. Er kann sich auch sein eigenes Entsetzen vorstellen. Welches Recht hat er, seinen schwärenden Leib und seine verbitterte Seele diesen unschuldigen Wesen aufzudrängen?
»Crake!«, wimmert er. »Warum bin ich auf Erden? Wieso bin ich allein? Wo ist Frankensteins Braut?«
Er muss dieses morbide Tonband abstellen, der niederschmetternden Szene entrinnen. Ach, Liebling, flüstert eine Frauenstimme, Kopf hoch!
Nimm’s von der heiteren Seite! Du musst positiv
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