Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
Vom Netzwerk:
Jimmy.
    »Schatz, wir sind so stolz auf dich«, sagte Ramona, die aufgetakelt war wie der Lampenschirm einer Hure: rosarote Rüschen an einem tief ausgeschnittenen Kleid. Eine ähnliche Aufmachung hatte Jimmy einmal auf HottTotts gesehen, allerdings bei einer Achtjährigen. Ramonas hochgestemmte, dekolletierte Brüste hatten Sommersprossen von zu viel Sonne, aber Jimmy hatte ohnehin das Interesse an ihnen verloren. Er war mit der Tektonik freitragender Stützapparate für Brustdrüsen längst vertraut, und Ramonas seit einiger Zeit matronenhaftes Auftreten stieß ihn zusätzlich ab. Sie hatte kleine Falten zu beiden Seiten des Mundes, trotz der Kollagenspritzen; ihre biologische Uhr tickte, wie sie gern betonte. Bald war die NooSkins-BeauToxique-Behandlung fällig –
    Falten für immer paralysiert, für Mitarbeiter zum halben Preis –, außerdem, in vielleicht fünf Jahren, das Totalbad im Jungbrunnen, bei dem die gesamte Epidermis abgeraspelt wurde. Sie küsste ihn neben die Nase und hinterließ einen Fleck Kirschlippenstift; er spürte ihn auf der Wange wie Fahrradschmiere.
    Sie durfte wir sagen und ihn küssen, weil sie jetzt offiziell seine Stiefmutter war. Seine echte Mutter war in absentia von seinem Vater geschieden worden, weil sie ihn »verlassen« hatte, und kurz darauf hatte sein Vater seine Pseudohochzeit gefeiert – wenn von »feiern« die Rede sein konnte. Nicht, dass seine echte Mutter etwas dagegen gehabt hätte, dachte Jimmy. Es wäre ihr egal gewesen. Sie war weit fort, erlebte auf eigene Faust beispiellose Abenteuer, fernab der peinlichen Festivitäten.
    Er hatte seit Monaten keine Postkarte mehr bekommen; die letzte, mit dem Bild eines Komodo-Drachen, war in Malaysia abgestempelt und hatte einen weiteren Besuch von CorpSeCorps-Leuten nach sich gezogen.
    Bei der Hochzeit betrank sich Jimmy so weit wie nötig. Er lehnte an einer Wand und grinste dämlich, während das glückliche Paar den zuckersüßen Kuchen zerteilte – lauter echte Zutaten, wie Ramona hatte wissen lassen. Viel Gegacker über die frischen Eier. Ramona konnte jetzt jeden Moment ein Baby planen, einen befriedigenderen Nachwuchs, als Jimmy je für irgendjemanden gewesen war.
    »Ist mir doch egal!«, flüsterte er vor sich hin. Er wollte ohnehin keinen Vater haben oder ein Vater sein, einen Sohn haben oder einer sein. Er wollte er selbst sein, allein, einzigartig, selbst erschaffen und autark.
    Von nun an wäre er vogelfrei, würde tun und lassen, was er wollte, würde sich Früchte prallen Lebens von den Lebensbäumen pflücken, ein paar Mal hineinbeißen und den Rest wegwerfen.
    Es war Crake, der ihn schließlich in sein Zimmer zurückbrachte. Zu dem Zeitpunkt war Jimmy mürrisch und konnte kaum noch stehen.

    »Schlaf deinen Rausch aus«, sagte Crake in seiner freundlichen Art.
    »Ich ruf dich morgen an.«

    Und jetzt war Crake hier auf der Gartenparty zum Schulabschluss, ragte hoch aus der Menge heraus, strahlend in seinem Erfolg. Nein, stimmt nicht, korrigiert Schneemensch. Das wenigstens kannst du ihm zugute halten. Geprotzt hat er nie.
    »Gratuliere«, rang sich Jimmy ab. Er fühlte sich da etwas wohler, weil er auf dieser Versammlung der Einzige war, der Crake schon längere Zeit kannte. Onkel Pete war zwar anwesend, aber er zählte nicht.
    Außerdem ging er Crake so weit wie möglich aus dem Weg. Vielleicht hatte er endlich begriffen, wem er seine Internetrechnungen zu verdanken hatte. Und Crakes Mutter war einen Monat zuvor gestorben.
    Es sei ein Unfall gewesen, hieß es offiziell. (Niemand nahm gern das Wort Sabotage in den Mund, das bekanntermaßen schlecht fürs Geschäft war.) Offenbar hatte sie sich im Krankenhaus verletzt, sich geschnitten – obwohl sie, sagte Crake, bei ihrer Arbeit nicht mit dem Skalpell hantierte – oder gekratzt, oder sie war leichtsinnig gewesen, hatte die Latexhandschuhe ausgezogen und war an einer wunden Stelle mit einem Patienten in Berührung gekommen, der infiziert war. Möglich war es: Sie war eine Nägelkauerin, vielleicht hatte der Erreger einen
    »integumentalen Invasionsort«, wie sie sagten, gefunden. Jedenfalls hatte sie sich mit einer heißen Bioform infiziert, die sich durch ihren Körper gefressen hatte wie ein Solarmäher. Es seien transgene Staphylokokken gewesen, sagte ein Laborant, vermischt mit einem schlauen Gen aus der Schleimpilz-Familie; aber als sie die Bioform endlich diagnostiziert hatten und mit einer, wie sie hofften, wirkungsvollen Behandlung begannen, lag

Weitere Kostenlose Bücher