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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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noch mehr Tränengas und Knüppel, und es wurde scharf geschossen. So ging das Tag für Tag. Seit dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts hatte sich nichts Vergleichbares ereignet. Da wurde Geschichte gemacht, sagte Crake.
    Trinkt nicht den Tod!, stand auf den Plakaten. In Australien, wo es noch Gewerkschaften gab, weigerten sich organisierte Hafenarbeiter, Happicuppa-Ladungen zu löschen; in den Vereinigten Staaten kam es zu einer »Boston Coffee Party«. Das war ein inszeniertes Medienereignis, langweilig, weil gewaltlos – lauter ergraute Typen mit Retro-Tattoos oder weißen Stellen, wo die Tätowierungen entfernt worden waren, und streng blickende Frauen mit Hängebusen und ein paar entweder übergewichtige oder spindeldürre Mitglieder ernster religiöser Randgruppen, auf deren T-Shirts Smiley-Engel mit Vögeln flogen, Jesus die Hand eines Bauern hielt oder die Botschaft prangte: Gott ist grün.
    Sie wurden gefilmt, während sie Happicuppa-Produkte in den Hafen warfen, aber die Kisten gingen nicht unter, weshalb das Happicuppa-Logo, dutzendfach vervielfältigt, auf dem Bildschirm herumhüpfte. Es hätte ein Werbespot sein können.
    »Macht mich durstig«, sagte Jimmy.
    »Nur Scheiße im Hirn«, sagte Crake. »Sie haben die Steine vergessen.«

    Normalerweise verfolgten sie den Gang der Ereignisse auf Noodie News im Internet, aber zur Abwechslung setzten sie sich manchmal auch vor den wandgroßen Plasmaschirm in Onkel Petes kunstledergepolstertem TV-Zimmer und sahen vollständig bekleidete Nachrichtensprecher. Die Anzüge und Hemden und Krawatten erschienen Jimmy bizarr, vor allem, wenn er leicht bekifft war, und er stellte sich vor, wie all die seriösen Plaudertaschen ohne ihr modisches Outfit aussähen, splitternackt und frontal auf Noodie News.
    Onkel Pete sah manchmal mit ihnen fern, abends, wenn er vom Golfplatz zurück war. Er schenkte sich einen Drink ein, dann gab er seinen immer gleich bleibenden Kommentar ab. »Der übliche Aufruhr«, sagte er. »Irgendwann haben sie’s satt und beruhigen sich wieder. Es will doch jeder seine Tasse Kaffee so billig wie möglich – dagegen kann man nicht kämpfen.«
    »Nein, sicher nicht«, sagte Crake liebenswürdig. Onkel Pete hatte einen Batzen Happicuppa-Aktien in seinem Portfolio: einen ordentlichen Batzen. »Was für ein Haufen«, pflegte Crake zu sagen, wenn er auf seinem Computer Onkel Petes Beteiligungen überprüfte.
    »Du könntest mit dem Zeug doch handeln«, sagte Jimmy. »Verkauf die Happicuppas und kauf was dafür, was er wirklich hasst. Windkraft zum Beispiel. Nein, besser – kauf irgendeinen Schrott. Besorg ihm südamerikanische Rinder-Futures.«

    »Geht nicht«, sagte Crake. »Mit einem Labyrinth kann ich das nicht riskieren. Das würde er merken. Dann weiß er, dass ich da drin war.«

    Die Lage eskalierte, als eine Gruppe fanatischer Happicuppa-Gegner das Lincoln-Denkmal in die Luft sprengte: Dabei kamen fünf japanische Schulkinder um, die als Besucher die Tour of Democracy mitgemacht hatten. Schlus mit der Häuchelei stand auf dem in sicherem Abstand hinterlegten Bekennerschreiben.
    »Armselig«, sagte Jimmy. »Die können nicht mal richtig schreiben.«
    »Ihre Meinung haben sie allerdings klar gemacht«, sagte Crake.
    »Ich hoffe, sie werden gegrillt«, sagte Onkel Pete.
    Jimmy gab keine Antwort, denn nun sahen sie die Blockade des Happicuppa-Hauptkomplexes in Maryland. In der brüllenden Menge, ein Schild mit der Aufschrift A Happicup is a Crappi Cup in beiden Händen, ein grünes Tuch über Nase und Mund, stand – oder nicht? –
    seine verschwundene Mutter. Für einen Moment rutschte das Tuch herab, und Jimmy sah sie ganz deutlich – ihre gerunzelten Brauen, ihre unschuldigen blauen Augen, ihren entschlossenen Mund. Liebe durchzuckte ihn, unerwartet und schmerzhaft, gefolgt von Wut. Es war, als würde er getreten: Wahrscheinlich hatte er einen japsenden Laut ausgestoßen. Dann erfolgte ein CorpSeCorps-Angriff, eine Tränengaswolke stieg auf, ein Knattern ertönte, das sich wie Schüsse anhörte, und als Jimmy wieder etwas erkennen konnte, war seine Mutter verschwunden.
    »Halt das Bild an!«, sagte er. »Lass zurücklaufen!« Er wollte sicher sein. Wie konnte sie so ein Risiko eingehen? Wenn sie ihnen in die Hände fiel, würde sie wirklich verschwinden, diesmal für immer. Aber Crake hatte nach einem kurzen Blick auf ihn bereits den Sender gewechselt.
    Ich hätte nichts sagen sollen, dachte Jimmy. Ich hätte keine Aufmerksamkeit erregen

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