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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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sollen. Eine eisige Furcht packte ihn. Was, wenn Onkel Pete richtig kombinierte und die Corps-Leute anrief? Sie wären ihr sofort auf den Fersen, sie würden ein Verkehrsopfer aus ihr machen.
    Aber Onkel Pete hatte anscheinend nichts gemerkt. Er schenkte sich noch einen Scotch ein. »Sie sollten die ganze Bande umlegen«, sagte er.
    »Einmal haben sie die Kameras zerschlagen. Wer hat das eigentlich gefilmt? Manchmal fragt man sich wirklich, wer diese Show veranstaltet.«

    »Also, was war das vorhin?«, sagte Crake, als sie allein waren.
    »Nichts«, sagte Jimmy.
    »Ich hab’s angehalten«, sagte Crake. »Ich hab die ganze Sequenz gespeichert.«
    »Lösch es lieber«, sagte Jimmy. Er war jenseits der Angst, er befand sich im Stadium tiefster Niedergeschlagenheit. Zweifellos griff Onkel Pete in dieser Sekunde zu seinem Mobiltelefon und wählte; und binnen weniger Stunden würde das nächste CorpSe-Corps-Verhör kommen.
    Seine Mutter dies und seine Mutter jenes. Er würde es wieder über sich ergehen lassen müssen, nichts zu machen.
    »Ist schon gut«, sagte Crake, was Jimmy interpretierte als: Du kannst mir vertrauen. Dann sagte er: »Lass mich raten. Stamm Chordaten, Klasse Wirbeltiere, Ordnung Säuger, Familie Primaten, Gattung Homo, Spezies sapiens sapiens, Subspezies deine Mutter.«
    »Korrekt«, sagte Jimmy teilnahmslos.
    »War nicht schwer«, antwortete Crake. »Ich hab sie gleich entdeckt, diese blauen Augen. Es war entweder sie oder ein Klon.«
    Wenn Crake sie erkannt hatte, wer hatte sie noch erkannt? Zweifellos hatten sie jedem Bewohner des HelthWyzer-Komplexes Bilder von ihr gezeigt: Haben Sie diese Frau gesehen? Die Geschichte seiner abtrünnigen Mutter war Jimmy überallhin gefolgt wie ein unerwünschter Hund und war vermutlich mitverantwortlich für sein schlechtes Abschneiden bei der Schülerauktion. Er war nicht zuverlässig, er war ein Sicherheitsrisiko, er trug einen Makel.
    »Mit meinem Dad war es dasselbe«, sagte Crake. »Er ist auch abgehauen.«
    »Ich dachte, er ist tot«, sagte Jimmy. Das war alles, was er bisher aus Crake rausbekommen hatte: Vater tot, Punkt, Themawechsel. Darüber war mit ihm nicht zu reden.
    »Ist er ja. Er fiel von einer Autobahnbrücke in Plebsland. Zur Stoßzeit; als sie ihn fanden, war er Katzenfutter.«
    »Ist er gesprungen oder was?«, sagte Jimmy. Crake schien nicht besonders erregt. Deshalb glaubte er, dass es in Ordnung war zu fragen.
    »Das war die Sprachregelung«, sagte Crake. »Er war ein Spitzenforscher drüben in HelthWyzer West und bekam ein sehr schönes Begräbnis. Erstaunliches Taktgefühl. Niemand hat je von Selbstmord gesprochen. Immer hieß es ›der Unfall deines Vaters‹.«
    »Tut mir Leid«, sagte Jimmy.
    »Onkel Pete war dauernd bei uns. Meine Mutter sagte, er war wirklich eine große Hilfe.« Crake sprach die große Hilfe aus wie ein Zitat. »Sie sagte, er war nicht nur der Chef und beste Freund meines Dads, sondern erwies sich auf einmal auch als wirklich guter Freund der Familie; dabei hatte man ihn vorher kaum zu Gesicht bekommen. Er wollte, dass alles für uns in Ordnung käme, das sagte er, das war ihm ein echtes Anliegen.
    Er versuchte dauernd, diese ernsthaften Gespräche mit mir zu führen –
    mir klar zu machen, dass mein Vater Probleme hatte.«
    »Mit anderen Worten: Er hielt ihn für durchgeknallt«, sagte Jimmy.
    Crake sah Jimmy mit seinen schrägen grünen Augen an. »Ja. Aber das war er eben nicht. Er war in der letzten Zeit besorgt gewesen, das war zu sehen, aber Probleme hatte er nicht. Er hatte überhaupt nichts von der Art im Sinn. Er wollte nirgendwo runterspringen. Das hätte ich gewusst.«
    »Du meinst, er ist vielleicht runtergefallen?«
    »Runtergefallen?«
    »Von der Überführung.« Jimmy wollte fragen, was er überhaupt auf einer Überführung in Plebsland zu suchen gehabt hatte, aber es schien ihm nicht der richtige Zeitpunkt dafür. »War da ein Geländer?«
    »Er war immer ein bisschen unkoordiniert«, sagte Crake mit einem sonderbaren Lächeln. »Er passte manchmal nicht auf, wohin er ging. Er hatte den Kopf in den Wolken. Er war überzeugt, dass er zur Verbesserung des menschlichen Daseins beitrug.«
    »Bist du gut mit ihm ausgekommen?«
    Crake zögerte. »Er hat mir Schach beigebracht. Bevor es passiert ist.«
    »Na ja, nachher wohl nicht«, sagte Jimmy leichthin, um das Gespräch aufzulockern, denn inzwischen tat ihm Crake regelrecht Leid, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

    Wieso hab ich es nicht gemerkt,

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