Oryx und Crake
1980 kam der Bereich Film hinzu, später auch noch Videokunst. Diese Fächer wurden nach wie vor unterrichtet – sie führten auch noch Stücke auf; hier sah Jimmy Macbeth als reales Theater und fand, dass die auf dem Klo sitzende Anna K. auf ihrer Website für Voyeure die Lady Macbeth überzeugender dargestellt hatte als die Schauspielerin auf der Bühne.
Die Gesang- und Tanzstudenten sangen und tanzten weiter, aber ihren Aktivitäten mangelte es an Begeisterung, und die Klassen waren klein.
Live-Aufführungen hatten erheblich unter der Sabotagepanik gelitten, die während der ersten Jahrzehnte des einundzwanzigsten Jahrhunderts herrschte – damals wollte niemand Teil einer größeren Menschenmenge bei einem öffentlichen Ereignis in einem verdunkelten, leicht zerstörbaren geschlossenen Raum sein, jedenfalls niemand, der etwas auf sich hielt. Theaterereignisse waren zu Variationen von Karaokeveranstaltungen, Tomatenwerfen oder Nasse-T-Shirts-Wettbewerben verkommen. Die älteren Formen – die Sitcom im Fernsehen, das Rockvideo – schleppten sich zwar weiter, aber ihr Publikum war alt und ihre Anziehungskraft vorwiegend nostalgisch.
Deshalb war vieles von dem, was an der Martha Graham betrieben wurde, etwa so, als studierte man Latein oder lernte das Buchbinderhandwerk: auf seine Weise nett anzusehen, aber ohne zentrale Bedeutung auf irgendeinem Gebiet, obwohl der College-Präsident seine Studenten hin und wieder einem sterbenslangweiligen Vortrag unterzog, in dem er sich über die vitale Bedeutung der Künste und ihren für alle Zeiten reservierten Platz im riesigen, mit rotem Samt ausgeschlagenen Amphitheater des schlagenden menschlichen Herzen ausließ.
Und wer brauchte Film- und Videokunst? Jeder, der einen Computer besaß, konnte zusammensetzen, was immer ihm einfiel, konnte altes Material digital verändern oder neue Animationen erzeugen. Man konnte einen der Standard-Handlungskerne herunterladen und mit jedem beliebigen Gesicht, jedem beliebigen Körper besetzen. Jimmy selbst hatte sich ein nacktes Stolz und Vorurteil und ein nacktes Zum Leuchtturm zusammengestellt, nur zum Spaß, und in VizArts im zweiten HelthWyzer-Highschool-Jahr hatte er den Malteser Falken mit Kostümen von Kate Greenaway und Rembrandtschen Tiefe- und Schatteneffekten gestaltet. Das war gut gewesen. Eine düstere Farbgebung, ein großartiges Chiaroscuro.
Da diese Abnutzung – die Erosion ihrer einstigen geistigen Domäne –
ein fortschreitender Prozess war, stand Martha Graham irgendwann ohne ein halbwegs überzeugendes Angebot da. Nachdem die Gründerväter alle tot waren und die Begeisterung der spendablen Kunstfreunde verraucht, so dass man in irdischeren Regionen Stiftungsgelder auftreiben musste, hatte sich der Unterrichtsschwerpunkt auf andere Schauplätze verlagert.
Zeitgenössische Schauplätze, hieß es. Webgame-Dynamik zum Beispiel; damit ließ sich immer noch Geld machen. Oder Bildpräsentation, im Lehrplan als Unterabteilung der Bildenden und Plastischen Künste aufgeführt – BilPlarts, wie die Studenten es nannten: Mit einem BilPlarts-Abschluss konnte man in die Werbung gehen, überhaupt kein Problem.
Oder der Studiengang Problematiken. Das war etwas für Wortmenschen, also schrieb sich Jimmy hier ein. Unter den Studenten kursierte der Spitzname Schwafeln & Grinsen. Wie alles andere an der Martha Graham verfolgte auch dieser Studiengang praktische Zwecke.
»Unsere Studenten gehen mit anwendbaren Fertigkeiten ins Leben«, lautete der Leitspruch unter dem ursprünglich lateinischen Motto der Akademie, Ars longa, vita brevis.
Jimmy machte sich wenig Illusionen. Er wusste, welche Optionen ihm offen standen, wenn er mit seinem lächerlichen Abschluss auf der anderen Seite der Problematiken wieder herauskam. Werbung war noch das Beste – dann würde er die kalte, harte, reale Zahlenwelt mit seidigen 2D-Wortschwallen ausschmücken. Je nachdem, wie gut er in seinen Problematikkursen abschnitt – Angewandte Logik, Angewandte Rhetorik, Medizinische Ethik und Terminologie, Angewandte Semantik, Relativistik und Fortgeschrittene Missdeutung, Komparative Kulturpsychologie und den übrigen –, hätte er die Wahl zwischen gut bezahlter Schaufensterdekoration für ein Großunternehmen oder billigem Zeug für eines an der Grenze des Zumutbaren. Sein künftiges Leben erstreckte sich vor ihm wie eine Verbannung; keine Gefängnisstrafe, sondern ein ausführlich begründetes Exil, wie er in den Bars und Pubs auf dem Campus
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