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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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denkt Schneemensch. Was er mir sagen wollte. Wie konnte ich nur so dumm sein?
    Nein, nicht dumm. Er kann nicht definieren, wie er damals gewesen ist. Kein unbeschriebenes Blatt – auch bei ihm hatten die Ereignisse ihre Spuren hinterlassen, auch er hatte Narben und düstere Gefühle.
    Unwissend vielleicht. Ungeformt, unfertig.

    Da war jedoch etwas Gewölkes an seiner Unwissenheit gewesen.
    Genauer: etwas Strukturiertes. Er war in ummauerten Räumen aufgewachsen und war schließlich selbst einer geworden. Manche Dinge ließ er nicht an sich heran.

Angewandte Rhetorik
    Als die Ferien vorbei waren, ging Crake ans Watson-Crick und Jimmy an die Martha-Graham-Akademie. Auf dem Bahnhof verabschiedeten sie sich voneinander, ehe jeder in seinen Hochgeschwindigkeitszug stieg.
    »Man sieht sich«, sagte Jimmy.
    »Wir mailen«, sagte Crake. Dann, als er Jimmys Niedergeschlagenheit bemerkte, fügte er hinzu: »Na komm, das wird schon, die Uni ist berühmt.«
    » War berühmt«, sagte Jimmy.
    »So schlimm wird’s nicht werden.«
    Hier irrte Crake ausnahmsweise. Martha Graham stand vor dem Zerfall. Das College war umgeben von Plebsland der schäbigsten, heruntergekommensten Sorte, sah Jimmy, als der Zug einfuhr – leer stehende Lagerhäuser, ausgebrannte Mietskasernen, leere Parkplätze.
    Hier und dort standen Schuppen und Hutten, zusammengestückelt aus geplündertem Material – Blech, Sperrholzplatten – und sicher illegal bewohnt. Wie existierten solche Leute? Jimmy hatte keine Ahnung.
    Aber da waren sie, hinter dem Stacheldraht, ein paar von ihnen streckten den Mittelfinger in die Luft, als der Zug vorbeifuhr, und riefen etwas, das durch das kugelsichere Glas nicht zu hören war.
    Die Sicherheitsmaßnahmen am Tor von Martha Graham waren ein Witz. Die Wächter dösten vor sich hin, und die Mauern – über und über mit verblassten Graffiti beschmiert – hätte ein einbeiniger Zwerg
    bezwingen können. Im Inneren des Komplexes hatten die Gebäude, die Bilbao-Plagiate aus Gussbeton waren, Risse in den Mauern, die einstigen Rasenflächen waren Lehm, je nach Jahreszeit festgebacken oder schlammig, und abgesehen von einem Schwimmbecken, das wie
    eine überdimensionale Sardinenbüchse aussah und roch, gab es keinerlei Freizeiteinrichtungen. In den Studentenheimen war die Klimaanlage die Hälfte der Zeit außer Betrieb; die Stromversorgung war chronisch überfordert; das Mensaessen war meist beige und sah aus wie Wakunckot. In den Schlafzimmern siedelten Gliederfüßer unterschiedlicher Familien und Gattungen, rund die Hälfte aber waren Kakerlaken. Jimmy fand den Ort deprimierend – wie anscheinend jeder, der über mehr neurale Kapazität verfügte als eine Tulpe. Aber das war eben die Karte, die ihm das Leben zugeteilt hatte, wie sein Vater bei ihrem peinlichen Abschied gesagt hatte: Jetzt sei es an ihm, sie so gut wie möglich auszuspielen.
    Richtig, Dad, hatte Jimmy gedacht. Auf dich kann man sich doch immer verlassen, wenn man mal einen wirklich klugen Rat braucht.

    Die Martha-Graham-Akademie war nach irgendeiner blutrünstigen alten Tanzgöttin des zwanzigsten Jahrhunderts benannt, die zu ihrer Zeit anscheinend ziemlich Furore gemacht hatte. Vor dem Verwaltungsgebäude stand eine schreckliche Statue von ihr, laut Bronzeplakette in ihrer Rolle als Judith, die soeben einen historisch gewandeten Kerl namens Holofernes enthauptet hat. Retrofeministische Scheiße, lautete die allgemeine Auffassung unter den Studenten. Von Zeit zu Zeit hatte die Statue verzierte Titten oder trug ein angeklebtes Büschel Stahlwolle in der Schamgegend – Jimmy hatte selbst schon Stahlwolle geklebt –, aber die Hochschulleitung war so komatös, dass die Dekoration oft monatelang an Ort und Stelle blieb, ehe sie zur Kenntnis genommen wurde. Eltern protestierten immer wieder gegen diese Statue – schlechtes Vorbild, zu aggressiv, zu blutig, blablabla –, woraufhin die Studenten einträchtig zu ihrer Verteidigung antraten. Die alte Martha sei ihr Maskottchen, sagten sie, die finstere Miene, der triefende Kopf, alles. Sie stand für Leben oder Kunst oder irgendwas.
    Hände weg von Martha. Lasst sie in Ruhe.
    Die Akademie war irgendwann im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts von einem Verein längst verstorbener liberaler, schwerreicher Menschenfreunde aus Old-New York als College für Kunst und Geisteswissenschaften, mit besonderem Schwerpunkt Darstellende Künste – Schauspiel, Gesang, Tanz und so weiter –
    gegründet worden. Um

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