Oryx und Crake
Tagebücher der Mädchen, mit ihren Großbuchstaben und mehrfachen Ausrufungszeichen und extremen Formulierungen – Liebe Liebe Liebe, Hass Hass Hass – und ihren bunten Unterstreichungen, so ähnlich wie die verrückten Briefe, die er später im Büro bekam. Er hatte immer gewartet, bis die Mädchen in der Dusche waren, und hatte dann blitzschnell alles durchwühlt. Natürlich war es sein eigener Name gewesen, nach dem er gesucht hatte, auch wenn ihm nicht alles gefiel, was er da fand.
Einmal hatte er gelesen, Jimmy, du neugieriger Sack, ich weiß, dass du das hier liest, ich hasse es, nur weil ich dich gefickt habe, heißt das nicht, dass ich dich mag, also FINGER WEG!!! Zwei rote Linien unter hasse, drei unter Finger weg. Ihr Name war Brenda gewesen. Niedlich, immer Kaugummi im Mund, saß vor ihm im Lebenslehre-Unterricht.
Sie hatte einen Roboterhund mit Solarakku auf ihrer Kommode gehabt, der bellen, einen Plastikknochen apportieren und das Bein heben konnte, um gelbes Wasser zu pinkeln. Es hatte ihn immer wieder umgehauen, dass die härtesten und zickigsten Mädchen den schmalzigsten, sentimentalsten Kram in ihren Zimmern hatten.
Auf dem Schminktisch steht die normale Ansammlung von Aufbaucremes, Hormonpräparaten, Ampullen und Spritzen, Kosmetik, Parfüms. Im Dämmerlicht, das durch die Lamellen der Jalousien hereinkommt, leuchten diese Dinge düster, wie ein mit Firnis abgetöntes Stillleben. Er besprüht sich mit dem Zeug aus einer der Flaschen, ein Moschusduft, von dem er hofft, dass er sich über die anderen Gerüche dort im Raum legt. Crack Cocaine steht in erhabenen Goldbuchstaben auf dem Etikett. Er überlegt kurz, ob er es trinken soll, aber erinnert sich dann, dass er den Bourbon hat.
Dann beugt er sich herunter, um sich in dem ovalen Spiegel ein Bild vom eigenen Zustand zu machen. Er kann Spiegeln an Orten, in die er einbricht, nicht widerstehen, er wirft bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Blick auf sich selbst. Es wird zunehmend zu einem Schockerlebnis. Ein Fremder starrt ihn an mit trüben Augen, hohlen Wangen, das Gesicht übersät von verschorften Insektenstichen. Er sieht zwanzig Jahre älter aus, als er ist. Er zwinkert, grinst sich selbst zu, streckt die Zunge heraus: Der Effekt ist zutiefst unheimlich. Hinter ihm im Spiegel wirkt die Hülle der Frau im Bett fast wie eine richtige Frau; als ob sie sich jeden Moment zu ihm wenden könnte, die Arme ausbreiten und ihm zuwispern könnte, herzukommen und sich über sie herzumachen. Über sie und ihr Elfenhaar.
Oryx hatte eine solche Perücke. Sie verkleidete sich gern, veränderte gern ihr Aussehen, gab gerne vor, jemand anderes zu sein. Sie stolzierte dann immer durch das Zimmer, legte einen kleinen Strip hin, schwenkte die Hüften und posierte. Sie sagte, Männer liebten Abwechslung.
»Wer hat dir das denn erzählt?«, fragte Jimmy sie.
»Ach, irgendwer«. Dann lachte sie. Das war unmittelbar, bevor er sie hochhob und ihre Perücke herunterfiel… Jimmiie! Aber er kann sich nicht leisten, gerade jetzt an Oryx zu denken.
Er merkt, dass er mitten im Zimmer steht, mit baumelnden Armen und offenem Mund. »Ich war unintelligent«, sagt er laut.
Nebenan ist ein Kinderzimmer mit einem Computer aus fröhlichrotem Kunststoff, einem Regal voller Teddybären, einem Tapetenfries mit Giraffen und einem Vorrat an CDs, die – nach den darauf abgebildeten Bildern zu schließen – einige extrem gewalttätige Computerspiele enthalten. Aber es ist kein Kind da, keine Kinderleiche. Vielleicht ist es gestorben und in jenen ersten Tagen eingeäschert worden, als Feuerbestattungen noch stattfanden; oder vielleicht ist es erschrocken, als seine Eltern umkippten und Blut zu röcheln begannen, und ist irgendwo anders hingelaufen. Vielleicht war es eines der Bündel aus Kleidern und Knochen, an denen er auf den Straßen draußen vorbeigekommen ist. Einige von ihnen waren ziemlich klein.
Er entdeckt den Wäscheschrank im Flur und tauscht sein schmutziges Laken gegen ein frisches aus, diesmal nicht weiß, sondern mit einem Muster aus Schnörkeln und Blumen. Das wird Eindruck machen unter den Craker-Kindern. »Seht mal«, werden sie sagen. »Schneemensch wachsen Blätter!« Sie würden ihm das zutrauen. Im Schrank ist ein ganzer Stapel sauberer Laken, ordentlich gefaltet, aber er nimmt nur das eine. Er möchte sich nicht mit Zeug belasten, das er nicht wirklich braucht. Falls er muss, kann er jederzeit zurückkommen, um mehr zu holen.
Er hört die
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