Oryx und Crake
RejoovenEsense-Komplexes erreicht, immer noch vier Meter hoch, aber nicht mehr unter Strom, die Metalldornen sind am Verrosten. Er geht durch das Außentor, das ausschaut, als habe es jemand aufgesprengt, hält im Schatten inne, um den Schokoriegel zu essen, und trinkt den Rest des Wassers. Dann setzt er seinen Weg fort, über den Graben hinweg, an den Wachhäuschen vorbei, wo einst die bewaffneten CorpSeCorps-Posten standen, und den verglasten Kästen, wo sie die Überwachungsgeräte bedienten, dann vorbei am Wachturm des Schutzwalls mit seiner Stahltür – die jetzt für immer offen steht –, wo er früher aufgefordert worden wäre, seinen Daumenabdruck und die Iris seines Auges zu zeigen.
Dahinter liegt der Ausblick, den er noch so gut in Erinnerung hat: Die Wohnbereiche angelegt wie eine Gartenvorstadt mit großen Häusern in nachempfundenem georgischem Stil, nachempfundenem Tudor-Stil und nachempfundenem französischem Landhausstil, die gewundenen Straßen führen zum Golfplatz und den dazugehörigen Restaurants und Nachtclubs und Kliniken und Einkaufszentren und Tennishallen und Krankenhäusern. Zur Rechten liegen der Sperrbereich der Isolierungsstätten für gefährliche Bioformen, in leuchtendem Orange, und die würfelförmigen Festungen aus Panzerglas, wo die geschäftliche Seite abgewickelt wurde. In der Ferne ist sein Ziel – der Zentralpark, darüber ist Crakes verzauberte Kuppel zu sehen, rund und weiß und strahlend hell, wie eine Blase aus Eis. Als er sie anschaut, läuft es ihm kalt über den Rücken.
Aber keine Zeit für sinnlose Reue. Er wandert zügig die Hauptstraße entlang, umgeht die Kleiderhaufen und zernagten Leichen. Außer den Knochen ist nicht viel übrig: Die Aasfresser haben ganze Arbeit geleistet. Damals, als er sich zu Fuß aus dem Staub machte, sah es hier aus wie nach einem Bürgerkrieg, und es stank wie ein Schlachthof, aber jetzt ist alles still und der Geruch hat sich verzogen. Die Organschweine haben den Rasen umgewühlt; ihre Hufspuren sind überall, wenn auch glücklicherweise keine allzu frischen.
Sein erstes Ziel ist Nahrung. Es wäre sinnvoll, bis ganz ans Ende der Straße zu gehen, wo die Einkaufszentren sind – die Chancen für eine anständige Mahlzeit wären dort besser –, aber dafür ist er zu hungrig.
Außerdem muss er aus der Sonne raus, und zwar sofort.
Also nimmt er die zweite Straße links, die in einen der Wohnbereiche führt. Unkraut wächst schon in den Bordsteinen. Die Straße bildet einen Ring; in der Insel in der Mitte stehen eine Hand voll Büsche, unbeschnitten und struppig, Leuchtfeuer mit roten und violetten Blüten.
Irgendeine exotische Genspaltung: In einigen Jahren werden sie verdrängt sein. Oder sie werden sich ausbreiten, Fuß fassen, die heimischen Pflanzen ersticken. Wer kann schon sagen, wie es sein wird?
Die ganze Welt ist mittlerweile ein riesiges unkontrolliertes Experiment
– so wie es schon immer war, hätte Crake gesagt –, und die Doktrin der unbeabsichtigten Folgen beherrscht alles.
Das Haus, das er sich aussucht, ist von mittlerer Größe, im Queen-Anne-Stil. Die Haustür ist abgeschlossen, aber ein Fenster mit rautenförmigen Scheiben ist eingeworfen worden: Irgendein zum Scheitern verurteilter Marodeur muss schon vor ihm da gewesen sein.
Schneemensch fragt sich, was der arme Kerl wohl gesucht hat: Nahrung, nutzlos gewordenes Geld oder einfach nur einen Schlafplatz? Was auch immer es war, es wird ihm nicht viel genützt haben.
Er trinkt ein paar Hände voll Wasser aus einer steinernen Vogeltränke.
Sie ist mit blöde glotzenden Fröschen verziert und immer noch so gut wie voll vom gestrigen Regen. Und sie ist nicht allzu verschlammt mit Vogelkacke. Was für Krankheiten übertragen Vögel, und ist das Zeug in ihrem Kot enthalten? Er wird es darauf ankommen lassen müssen. Er klatscht sich Wasser ins Gesicht und füllt seine Flasche auf. Dann sieht er sich das Haus an, sucht Hinweise, Bewegung. Er kann den Gedanken nicht abschütteln, dass jemand – jemand wie er – auf der Lauer liegt, hinter einer Ecke, hinter einer halb geöffneten Tür.
Er nimmt seine Sonnenbrille ab, verknotet sie in seinem Laken. Dann steigt er durch das eingeschlagene Fenster ein, erst das eine Bein, dann das andere, nachdem er zuerst seinen Stock hineingeworfen hat. Jetzt steht er im Dämmerlicht. Die Haare auf seinen Armen sträuben sich: Klaustrophobie und ein ungutes Gefühl bedrücken ihn schon jetzt. Die Luft ist schwer, als ob sich
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