Oryx und Crake
Panik darin niedergeschlagen hätte und noch keine Zeit hatte, sich zu zerstreuen. Es riecht wie tausend verstopfte Ausgüsse.
»Hallo!«, ruft er. »Irgendjemand zu Hause?« Er kann nichts dafür: Jedes Haus spricht für ihn von mutmaßlichen Bewohnern. Er hat das Bedürfnis umzukehren; Übelkeit zittert ihm im Hals. Aber er hält sich einen Zipfel seines ranzigen Lakens über die Nase – wenigstens ist es sein eigener Geruch – und bahnt sich einen Weg über den vergammelnden Teppich, vorbei an den verschwommenen Formen der gepolsterten Nostalgiemöbel. Man hört ein Quieken, ein Huschen: Die Ratten haben die Oberhand gewonnen. Er wählt seine Schritte mit Sorgfalt. Er weiß, wie er für die Ratten aussieht: Lebendes Aas.
Allerdings klingen sie wie Ratten, nicht Schlatten. Schlatten quieken nicht, sie zischen.
Quiekten, zischten, verbessert er sich. Sie wurden liquidiert, sie sind ausgerottet, er muss darauf bestehen.
Das Wichtigste zuerst. Er ortet das Schnapsfach im Wohnzimmer und geht es schnell durch. Eine halb leere Flasche Bourbon; sonst nichts, nur ein Haufen Leergut. Keine Zigaretten. Es muss sich um einen Nichtraucherhaushalt gehandelt haben, oder ansonsten hat sie der Marodeur vor ihm geklaut. »Leck mich doch«, sagt er zu dem Büfett aus gebeizter Eiche.
Dann schleicht er auf Zehenspitzen die mit Teppichboden ausgelegte Treppe in den ersten Stock hinauf. Warum so leise, als ob er ein richtiger Einbrecher wäre? Er kann nichts dafür. Sicher sind Leute da und schlafen. Sicher werden sie ihn hören und aufwachen. Aber er weiß, dass das unsinnig ist.
Da liegt ein Mann im Badezimmer, hingestreckt auf den erdfarbenen Fliesen, und trägt – seine Überreste tragen – einen Pyjama mit blauen und kastanienfarbenen Streifen. Merkwürdig, denkt Schneemensch, dass im Notfall viele Menschen Richtung Bad liefen. Badezimmer kamen Schutzräumen noch am nächsten in diesen Häusern, Orte, an denen man allein sein konnte, um nachzudenken. Auch um zu kotzen, aus den Augen zu bluten, sich die Gedärme aus dem Leib zu kacken, verzweifelt im Medizinschränkchen nach einer Pille zu suchen, die einen retten würde.
Es ist ein schönes Badezimmer. Ein Whirlpool, mexikanische Meerjungfrauen aus Porzellan an den Wänden, die Köpfe mit Blumen bekränzt, die aufgemalten Brustwarzen hellrosa auf ihren Brüsten, die klein, aber prall sind. Er hätte nichts gegen eine Dusche – dieses Haus hat wahrscheinlich einen Regenwasserrückhaltetank mit natürlichem Druckgefälle –, aber in der Wanne ist irgendeine Art eingetrockneter Matsch. Er nimmt sich ein Stück Seife und sucht im Spiegelschrank nach Sonnenschutz, ohne Erfolg. Ein BlyssPluss-Behälter, halb voll; ein Röhrchen voll Aspirin, das er mitgehen lässt. Er überlegt, ob er eine Zahnbürste dazulegen soll, aber es widerstrebt ihm, sich die Zahnbürste eines Toten in den Mund zu stecken, also nimmt er nur die Zahnpasta.
Für ein strahlenderes Lächeln, liest er. Soll ihm Recht sein, er braucht ein strahlenderes Lächeln, obwohl er sich im Augenblick nicht vorstellen kann, wofür.
Der Spiegel an der Vorderseite des Schränkchens ist eingeschlagen: Ein letzter Ausbruch wirkungsloser Wut, kosmischen Protests – Warum gerade das? Warum gerade ich? Er kann das verstehen, er hätte das Gleiche getan. Irgendwas kaputt schlagen; den letzten Anblick seiner selbst in Stücke schlagen. Die meisten Scherben liegen im Waschbecken, aber er ist vorsichtig, wo er seine Füße hinsetzt: Wie bei einem Pferd hängt sein Leben jetzt von ihnen ab. Wenn er nicht mehr gehen kann, ist er Rattenfraß.
Er geht weiter den Flur entlang. Die Dame des Hauses liegt im Schlafzimmer, eingekuschelt unter das rosa und goldene Deckbett, ein Arm und ein Schulterblatt aufgedeckt, Knochen und Sehnen in einem Nachthemd mit Leopardenfellaufdruck. Ihr Gesicht ist von ihm abgewandt, ist auch besser so, aber ihr Haar ist in Ordnung, alles aus einem Guss, als ob es eine Perücke wäre: dunkle Haarwurzeln, gebleichte Strähnchen, eine Art Elfenlook. An der richtigen Frau könnte das attraktiv wirken.
Zu anderen Zeiten seines Lebens durchwühlte er die Schubladen anderer Leute, wann immer sich ihm auch nur die geringste Chance bot, aber in diesem Zimmer hat er keine Lust dazu. Es war sowieso immer dasselbe. Unterwäsche, sexuelle Hilfsmittel, Modeschmuck, dazwischen Bleistiftstummel, Kleingeld und Sicherheitsnadeln und ein Tagebuch, wenn er Glück hatte. Als er noch in der Highschool war, las er gerne die
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