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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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dass noch jemand ins Zimmer gekommen war. Ich drehte den Kopf und sah Oscar auf dem Boden sitzen. Er sah mich aufmerksam an.
    »Na, du? Begleitest du mich neuerdings auf Visite?«
    Ich streckte Oscar die Hand hin. Er roch interessiert dar-an, dann stand er auf und kam näher, um sich hinter den Ohren streicheln zu lassen. Schließlich sprang er mir mit einem einzigen Satz auf den Schoß, wo er sich niederließ und mich beäugte. Er schnurrte.
    »Na, was meinst du?«, fragte ich und deutete mit dem Kinn auf den Patienten.
    Oscar warf einen Blick auf Saul, als würde er tatsächlich dessen Zustand beurteilen. Dann verließ er meinen Schoß, ging zum Fernsehsessel und sprang auf dessen Lehne, wo er kurz schnuppernd sitzen blieb, bevor er sich wieder auf den Boden begab und aus dem Raum huschte. Ich hatte fast den Eindruck, gerade einen Zweitbefund erhalten zu haben wie von einem Kollegen.
    Ich beendete meine Untersuchung, verabschiedete mich von Saul und kehrte zum Stationszimmer zurück, wo Mary an einer Patientenakte arbeitete.
    »Jetzt habe ich gerade mit Oscar Visite gemacht«, verkündete ich grinsend.
    »Glauben Sie etwa endlich auch an seine besonderen Fähigkeiten?«
    »So weit würde ich nicht gehen, aber ich habe mir ein paar Gedanken gemacht. Nehmen wir mal rein theoretisch an, dass er in der Lage ist zu spüren, wenn jemand im Sterben liegt. Meinen Sie, dass er dann ein bestimmtes Hormon riecht, oder geht es um etwas, das wir beide nicht wahrnehmen können?«
    »Das weiß ich auch nicht, David. Ich könnte mir vorstellen, dass es nicht nur um irgendwelche Hormone geht, aber ich habe von Krankenschwestern und Pflegern gelesen, die behaupten, sie könnten riechen, wenn jemand bald sterben wird.«
    Nachdem ich eine Weile nachgedacht hatte, fiel mir zumindest eine wissenschaftliche Erklärung ein.
    »Wenn die Zellen nicht mehr arbeiten, gerät der Körper in einen Hungerzustand, bei dem man Ketone riechen kann«, sagte ich. Den süßen Geruch dieser Stoffwechselprodukte konnte man auch bei schlecht eingestellten Diabetikern wahrnehmen.
    Mary zuckte die Achseln. »Ich persönlich würde meinen, es ist mehr als ein Geruch. Vielleicht ahmt Oscar allerdings auch das Verhalten des Personals hier einfach nach. Zum Beispiel haben Sie gerade Interesse an Saul gezeigt, indem Sie in seinem Zimmer waren. Es könnte also sein, dass Oscar einfach nur zum Team gehören will. Schließlich hat jede Katze das Gefühl, sie muss sich ihren Lebensunterhalt verdienen.«
    In Gedanken versunken, blickte ich den Flur entlang. »Einerseits klingt das plausibel«, sagte ich, »aber andererseits erklärt es nicht, wieso er manchmal als Erster ins Zimmer eines sterbenden Patienten kommt.«
    Offenbar hatte ich eine finstere Miene aufgesetzt, denn Mary knuffte mich scherzhaft in den Arm. »Nicht so ernst!«, sagte sie. »So kriegt man ja richtig Angst vor Ihnen.«
    »Es ist schon komisch«, sagte ich. »Trotz meines Fachwissens und meiner ganzen Erfahrung komme ich immer noch oft in ein Zimmer und habe keine Ahnung, was mit dem Patienten geschehen wird. Dabei fragen die Angehörigen ständig, wie viel Zeit noch bleibt.«
    »Davon kann ich ein Lied singen.«
    »Und was sagen Sie denen?«
    »Ich sage ihnen, dass nur Gott das wirklich weiß, aber dass ich leider seine Telefonnummer nicht habe.«
    »Wie eine Katze«, sagte ich unwillkürlich.
    »Wie bitte?« Nun blickte Mary perplex drein.
    »Sie wissen schon:
Ein Hund kommt, wenn man ihn ruft, eine Katze nimmt die Nachricht zur Kenntnis und kommt gegebenenfalls darauf zurück.
« Ich blickte unter den Tisch, wo der Futternapf stand: kein Oscar. »Jedenfalls ist Oscar vorhin in Sauls Zimmer gekommen, hat ein wenig geschnuppert und ist dann wieder hinausmarschiert, als gäbe es keinen Grund, sich Sorgen zu machen.«
    »Wahrscheinlich weiß er, dass Ihnen eine Behandlung für Saul einfallen wird.«
    »Schon möglich. Aber man fühlt sich doch ein wenig seltsam, wenn man merkt, dass man in der medizinischen Hierarchie unter einem Kater rangiert.«
    Mary gluckste. Als ich sie betrachtete, wurde ich neugierig, wie sich ihr Verhältnis zu Oscar entwickelt hatte.
    »Mary, wann ist Ihnen eigentlich zum ersten Mal aufgefallen, wie Oscar sich verhält?«
    Sie legte ihren Kugelschreiber weg und lehnte sich zurück. »Am Anfang habe ich mir darüber wohl gar keine Gedanken gemacht«, sagte sie. »Irgendwann haben manche Kolleginnen darüber getuschelt, dass Oscar immer da ist, wenn jemand stirbt. Soweit ich

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