Oscar
einen weiteren Angriff auf seine Burgtore erwartet.
»Dr.Dosa, ich weiß, meine Frau hat eine schreckliche Krankheit, aber ich bin nicht bereit, sie aufzugeben. Sie liebt mich noch immer, und die Zeit, die ich mit ihr verbringe, ist wichtig für mich.«
Die nächsten Worte wählte ich sehr sorgsam.
»Ich weiß, was Sie für Ihre Frau empfinden, aber ich muss Ihnen trotzdem sagen, was ich denke. Sie haben zu Mary gemeint, Ruth solle wegen ihres Gewichtsverlusts von einem Spezialisten untersucht werden. Ich glaube aber nicht, dass eine solche Untersuchung irgendetwas ändern kann. Das würde nur bedeuten, dass Ruth allerhand Tests unterzogen wird, von denen manche unter Umständen ziemlich unangenehm sind. Und selbst falls bei der Untersuchung herauskommen sollte, dass Ihre Frau Krebs hat, Frank, wissen Sie so gut wie ich, dass eine aggressive Behandlung nicht in Frage kommt. Das würde Ruth nicht überstehen.«
An Franks Miene war zu erkennen, dass er wieder zornig geworden war. Ich hatte eine Grenze übertreten, und er reagierte entsprechend.
»Doktor, ich will, dass Sie alles für meine Frau tun, was Sie sich für Ihre eigene Frau oder Ihre Kinder wünschen würden. Wenn Ruths Herz stehen bleibt, sollen Sie es wieder in Gang setzen. Wenn sie noch einmal eine Lungenentzündung bekommt, will ich, dass man sie in die Klinik bringt. Und wenn sie einen Spezialisten braucht, dann soll sie den bekommen. Ist das klar?«
»Glasklar, Mr.Rubenstein.«
Ich stand auf und ging zur Tür. Als ich die Schwelle erreicht hatte, drehte ich mich zu Frank und seiner schlafenden Frau um. Wider besseres Wissen versuchte ich es ein letztes Mal.
»Frank, ich weiß, Sie lieben Ihre Frau.«
Er hob den Blick und ich sah, wie der Zorn aus seiner Miene schwand.
Ich machte eine kleine Pause und überlegte, wie weit ich gehen konnte.
»Manchmal drückt Liebe sich am tiefsten aus, indem man loslässt«, sagte ich schließlich. »Es geht nicht darum, gegen mich oder sonst jemand vom Personal hier zu kämpfen. Denken Sie einfach an Ruth.«
Als ich zum Stationszimmer kam, wartete Mary bereits auf mich. Oscar war inzwischen von seinem Versteck auf den Aktenschrank zurückgekehrt und wieder eingeschlafen.
»Na, wie ist es gelaufen?«, fragte Mary.
»Es bleibt beim Status quo«, erwiderte ich.
Mary schüttelte den Kopf.
»Dann rufe ich morgen den Gastroenterologen an und vereinbare einen Termin«, sagte sie. Offenkundig hatte sie gehofft, ich könnte Frank von seinem Vorhaben abbringen. Sie ging ins Zimmer, um sich eine Notiz zu machen.
»Es wird nicht viel bringen, nicht wahr?«, fragte sie durch die offene Tür hindurch.
»Nein, Mary, das wird es nicht, aber Frank ist noch nicht bereit, das zu akzeptieren.«
»Lassen Sie ihm Zeit«, sagte sie.
»Die haben wir genug.«
[home]
Ich habe viele Philosophen und viele Katzen studiert.
Die Weisheit der Katzen ist bei weitem überlegen.
Hippolyte Taine
7
E s war ein ganz gewöhnlicher Mittwoch. Jedenfalls dachte ich das, bevor ich hinter dem Schreibtisch der Schwesternstation ein neues Gesicht entdeckte. Eigentlich war es ein altes Gesicht und gehörte einer Frau, die ich auf Anfang achtzig schätzte. Sie trug einen geschmackvollen, hellblauen Kaschmirpullover, war sorgfältig geschminkt und hatte säuberlich lackierte Fingernägel. Ihr angegrautes, dunkelblondes Haar wurde am Hinterkopf von einer edel aussehenden, antiken Spange zusammengehalten.
Bevor ich eine Frage stellen konnte, sagte Mary: »Dr. Dosa, darf ich Ihnen Louise Chambers vorstellen? Sie ist unsere neue Empfangsdame.«
»Wie bitte?« Auf der zweiten Etage gab es keine Empfangsdame; so etwas ließ unser Budget nicht zu.
Mary lachte über meine Verwirrung. »Das ist doch nur eine Patientin, David!«
Inzwischen hatte Louise das Telefon abgenommen, obwohl es gar nicht geläutet hatte, und sprach in den Hörer. Dabei fiel mir ein anderer Patient ein, von dem Mary mir erzählt hatte, ein früherer Versicherungsvertreter, der oft in seinem Zimmer am Schreibtisch saß, die Füße hochgelegt hatte und mit einem nicht angeschlossenen Telefon Verkaufsgespräche führte.
»Ist sie neu?«, fragte ich.
»Aber nein, überhaupt nicht. Louise ist schon etwa drei Monate hier. In letzter Zeit kommt sie allerdings öfter hierher und setzt sich zu uns. Wenn gerade niemand von uns da ist, nimmt sie manchmal das Telefon ab.«
Ich beobachtete Louise, die wiederholt den Hörer abnahm und wieder auflegte. Wie viele Angehörige wohl schon
Weitere Kostenlose Bücher